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Benedikt-Anliegen

„Wo war Gott?“

Papst Benedikt XVI. in Auschwitz – eine theologische Nachbetrachtung.

 

von Professor Dr. Jan-Heiner Tück

Portrait Professor Dr. Jan-Heiner Tück.

Ein deutscher Papst in Auschwitz? Wird er am Ort des Schreckens die richtigen Worte und Gesten finden? Kann er nach Johannes Paul II. auf diesem schwierigen Terrain überhaupt Wegweisendes sagen? Immer wieder war im Vorfeld des Auschwitz-Besuches am 28. Mai 2006 zu hören, dass Benedikt XVI. hier kaum Spielraum für neue, eigene Akzentsetzungen bleibe. Allein, dass er dies als „Sohn des deutschen Volkes“ getan hat, zeigt bei aller Kontinuität doch auch das Neue.

Der polnische Pontifex gehörte einer Nation an, die selbst gezieltes Opfer des NS-Regimes geworden ist; Benedikt hingegen stammt aus Deutschland, dem Land der Täter. Er hat als Oberhaupt der katholischen Kirche Überlebende des Nazi-Terrors getroffen und um die Heilung der Wunden der Vergangenheit gebetet. Anders als die NS-Größen, fuhr der Papst nicht mit einer Limousine, sondern schritt zu Fuß durch das Lagertor, das mit der zynischen Aufschrift „Arbeit macht frei“ versehen ist.

Allein begab er sich zur Todesmauer, an der unzählige KZ-Insassen willkürlich erschossen worden waren. An dieser Stätte des Leidens hielt der Papst inne, schwieg und betete. Stillstand der Zeit, um der verstummten Schreie der Toten zu gedenken, ihr Geschick dem Gott des Lebens anzuempfehlen.

Papst emeritus Benedikt XVI. läuft durch das Konzentrationslager in Auschwitz. Man sieht ihn auf dem Hof zwischen den Baracken.

Die Sprache der Gesten

Erst danach begrüßte Benedikt XVI. zweiunddreißig Überlebende, jeden einzeln, jeden persönlich. Menschen, die von den Nazis zu antlitzlosen Nummern gestempelt worden waren, wurden vom Papst als Personen mit Stimme und Gesicht gewürdigt, wobei ins Auge fiel, dass es Altersgenossen waren, die hier zusammenkamen.

Den Höhepunkt bildete die eigens für den Besuch in Auschwitz-Birkenau komponierte Gedenkfeier. Der Papst hatte auf eine Messe verzichtet, um die religiösen Gefühle Andersgläubiger, vor allem jüdischer Überlebender nicht zu verletzen. Er schritt zunächst die zweiundzwanzig Gedenktafeln ab, die in unterschiedlichen Sprachen an die unzähligen Opfer des ehemaligen Vernichtungslagers erinnern.

Auschwitz, der größte Friedhof der Welt, ist ohne Gräber, so dass die Tafeln stellvertretend an die unbestatteten Opfer erinnern. In der Nähe der Krematorien wurde mit Psalm 22 ein Klagegebet intoniert, welches das beklemmende Gefühl der Gottesfinsternis ins Wort bringt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Papst Benedikt XVI. mit erschüttertem Blick vor der Todesmauer in Auschwitz.

Der Schrei Hiobs und die Sprache der Psalmen

Die Ansprache, die der Papst als Oberhaupt der katholischen Kirche in italienischer Sprache vortrug, hatte zweifelsohne besonderes Gewicht. Eingangs betonte der Papst die Singularität der Verbrechen von Auschwitz und wandte sich damit gegen geschichtsrevisionistische Tendenzen, welche die Shoah zu einer Marginalie der Weltgeschichte herunterstufen.

Die Aussage, die Verbrechen seien „ohne Parallele in der Geschichte“, kann als später pontifikaler Kommentar zum Historikerstreit gelesen werden, in dem die These, dass sich die NS-Verbrechen historisch vergleichen und einordnen lassen, durch den Hinweis auf die Analogielosigkeit und Einzigkeit bestritten wurde.

Gleichzeitig stellte Benedikt XVI. seine Sprachnot heraus: Es falle ihm schwer, als Christ und Papst, der aus Deutschland stamme, die richtigen Worte zu finden. Das bestürzte Schweigen geriet ihm daher zu einem inwendigen Schrei nach Gott: „Warum hast du geschwiegen? Warum konntest du dies alles dulden?“ Die diskursive Sprache des Theologen wich der Sprache des Gebets in der Spur Hiobs.

Die bedrängenden Fragen, die Auschwitz aufwirft, wurden durch Benedikt XVI. theodizee-empfindlich vor Gott gebracht. Damit näherte er sich der Perspektive der Betroffenen, ohne indes die Frage nach der geschichtlichen Verantwortung für das Verbrechen direkt aufzuwerfen oder gar das bedrängende Problem der Gerechtigkeit für die Opfer anzusprechen. Stattdessen richtete er „die laute Bitte um Vergebung und Versöhnung … an den lebendigen Gott, dass er solches nie wieder geschehen lasse“.

Die Mahnung, das jüdische Leid nie zu vergessen

Die bloße Präsenz des Papstes in Auschwitz zeigte, dass die Vergangenheit nicht vergangen ist. Sie geriet zur Mahnung, das jüdische Leid nicht zu vergessen, es im Gegenteil gegenwärtig zu halten, um in Zukunft andere, bessere Wege gehen zu können. Die historische Aussage allerdings, das deutsche Volk sei von einer „Schar von Verbrechern“ ideologisch instrumentalisiert worden, wurde kritisiert, weil sie die Demokratiemüdigkeit und Ideologieanfälligkeit der deutschen Bevölkerung in der Endphase der Weimarer Republik nicht eigens ins Wort brachte.

Falls Benedikt XVI. deutlich machen wollte, dass nicht alle Deutschen Nazis waren, eine pauschale Schuldzuweisung den historischen Realitäten also nicht gerecht wird, hat er dies in einer Formulierung getan, die für manche Ohren eine entschuldigende Note hatte. Bemerkenswert waren indes die theologischen Fragen, die Benedikt XVI. stellte: Wo war Gott in Auschwitz? Warum hat er geschwiegen? Wie konnte der Triumph des Bösen geschehen?

Papst Benedikt XVI bei der Begegnung mit Überlebenden des KZ Auschwitz. Man sieht den Rücken des Papstes und die weinenden Gesichter der Überlebenden.

Ein Attentat auf Gott selbst

Statt einer theologischen Antwort oder eines theoretischen Theodizeeversuches rezitierte der Papst die Worte des Klagepsalms: „Du hast uns verstoßen an den Ort der Schakale und uns bedeckt mit Finsternis ... Um deinetwillen werden wir getreten Tag für Tag, behandelt wie Schafe, die man zum Schlachten bestimmt hat. Wach auf! Warum schläfst du, Herr? Erwache, verstoß uns nicht für immer! Warum verbirgst du dein Gesicht, vergisst unsere Not und Bedrängnis? Unsere Seele ist in den Staub hinabgebeugt, unser Leib liegt am Boden. Steh auf – hilf uns! In deiner Huld erlöse uns!“ (Ps 44, 20.23-27)

Am Ende seiner Rede ließ der Papst einige der Steintafeln beredt werden, an denen er zuvor vorübergeschritten war. Der Gedenkstein in hebräischer Sprache erinnere an den Versuch der Nationalsozialisten, das Volk der Juden als Ganzes zu zertreten und aus der Landkarte der Menschheit zu tilgen. Dieser Versuch sei letztlich ein Attentat auf Gott selbst gewesen. Denn „im Tiefsten wollten jene Gewalttäter mit dem Austilgen dieses Volkes den Gott töten, der Abraham berufen, der am Sinai gesprochen und dort die bleibend gültigen Maße des Menschenseins aufgerichtet hat.“

Die theologische Absage an den Antisemitismus konnte gar nicht schärfer artikuliert werden.

Mit den Juden, den geschichtlichen Trägern des Ein-Gott-Glaubens und des Dekalogs, den Zeugen des Bundes, sollte Gott selbst ermordet werden, auf dass sich die gottlose Herrschaft der nazistischen Ideologie ohne Schranken etablieren könne. Die theologische Absage an den Antisemitismus konnte gar nicht schärfer artikuliert werden. Mit der These, dass Antisemitismus eine Form von Anti-Theismus ist, dass – biblisch gesprochen – Gottes Augapfel überall dort angetastet wird, wo sein erwähltes Volk bedroht wird (vgl. Sach 2,12), wird die theologische Tiefendimension des Judenhasses offengelegt, die meistens verdeckt bleibt. Das dürfte die bedeutendste Aussage der Rede sein.

Benedikt XVI. hat als Papst aus dem Land der Täter das Erbe seines polnischen Vorgängers Johannes Paul II. weitergeführt. Die Erinnerung an das Leiden der Opfer, die im Innehalten an der Todesmauer und im schweigenden Abschreiten der Gedenktafeln eindrücklich sichtbar wurde, war dem Papst ein Bedürfnis, ja eine Pflicht.

Zugleich hat Benedikt XVI. die Opfer dem Gedenken Gottes anempfohlen, wohl wissend, dass von der memoria Dei allein die Rettung der Verlorenen zu erhoffen ist. Auch wenn die historische Dimension der Verbrechen wohl deutlicher hätte benannt werden können, so hat Benedikt XVI. doch unmissverständlich herausgestellt, dass das Attentat auf das jüdische Volk als Attentat auf Gott selbst verstanden werden kann.

Innehalten von Papst Benedikt XVI. an einer der Gedenktafeln, die in verschiedenen Sprachen an die unzähligen Opfer des ehemaligen Vernichtungslagers erinnern.

Anti-Semitismus läuft auf einen Anti-Theismus hinaus, weil die Feindschaft gegen das erwählte Volk sich im letzten auf den erwählenden Gott richtet.

Anti-Semitismus läuft auf einen Anti-Theismus hinaus, weil die Feindschaft gegen das erwählte Volk sich im letzten auf den erwählenden Gott richtet. Mit diesem Hinweis auf die theologische Tiefendimension des Antisemitismus ist der Papst über die übliche politische Rhetorik weit hinausgegangen. Die Bitte um Versöhnung aber, um die es dem Papst bei seinem Besuch in Auschwitz wesentlich ging, dürfte auf die schmerzliche Einsicht zurückgehen, dass es Verletzungen gibt, die so tief reichen, dass sie von Menschen nicht mehr geheilt werden können.

Portrait Professor Dr. Jan-Heiner Tück.

Der Autor, Prof. Dr. Jan-Heiner Tück, ist Professor für Dogmatik am Institut für Systematische Theologie und Ethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.

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