zum Benedikt Anliegen

zum

Benedikt-Anliegen

Mut zur Weite der Vernunft

Bei seiner Rede in London am 17. September 2010 betont Benedikt XVI., dass die „Welt der Vernunft“ und die „Welt des Glaubens“ einander brauchen.

 

von Professor Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz

Portrait der Autorin und Religionsphilosophin Gerl-Falkovitz

In dem wohl erfolgreichsten Buch Joseph Ratzingers, Einführung in das Christentum von 1968, lautet eine Überschrift „Die Vernunft des Glaubens“. Jahrzehnte später wird Papst Benedikt XVI. das Wort des Alten Testaments vom „Vorhof der Völker“ aufgreifen. Der Vorhof war den nichtjüdischen Pilgern guten Willens vor dem eigentlichen Heiligtum des Jerusalemer Tempels zugänglich. Er könnte daher ebenso „Vorhof der Vernunft“ heißen.

Aus der Rede des Papstes spricht großes Vertrauen auf die Vernunft

Ein großes Vertrauen auf die gemeinsame Vernunft vor der Schwelle des Heiligen spricht auch aus der Rede des Papstes vor dem englischen Parlament; sie fand statt anläßlich seiner Reise zur Seligsprechung John Henry Newmans im Herbst 2010.

Der Gedanke berührt die spannende und bleibende Frage, wieweit eine pluralistische Demokratie Rechte und Pflichten ihrer Mitglieder in einem deutlichen gesellschaftlichen Konsens durchsetzen könne und sogar müsse. Gibt es objektive moralische Prinzipien, auf die sich unterschiedliche Kulturen und Religionen einlassen können, und das nicht nur unter Druck, sondern aus Einsicht?

„Ich bin mir des Privilegs bewusst, hier in Westminster Hall eine Ansprache an das britische Volk und seine Vertreter halten zu dürfen", sagte der Papst zu Beginn seiner Rede.

Benedikt appelliert an eine Instanz, die der positiven Gesetzgebung vorgelagert ist und auf die sie im Zweifelsfall zurückgreifen kann.

Als Beispiel eines solchen Rechts wird genannt die Gleichheit von Mann und Frau vor dem Gesetz als Ausdruck ihrer menschlichen Würde. Eben diese Rechtsgleichheit ist ja keineswegs in allen Kulturen verbrieft, und selbst die Abschaffung der Sklaverei bedurfte eines langen Denkprozesses auch in christlichen Gesellschaften wie England, bis sie schließlich durchgesetzt werden konnte.

Der Papst appelliert daher an eine Instanz, die der positiven Gesetzgebung vorgelagert ist und auf die sie im Zweifelsfall zurückzugreifen hat. Er nennt sie das Naturrecht, was besagen will, dass die Ordnungsprinzipien der Gesellschaft nicht aus zwecklichen Gründen, etwa zum Machterhalt der Herrschenden oder zur bloß zwanghaften Befriedung der Gesellschaft, sondern aus der Natur des Menschen selbst herauszuarbeiten sind. Sie sind damit von der Würde jedes Einzelnen her gedacht und zugleich für die Gesamtheit verbindlich.

Benedikts Ansprache in Westminster Hall, mit Blick zum Rednerpult, an dem Papst Benedikt XVI. steht

Natur und Vernunft sind die beiden Quellen eines Rechts, das über einer positivistisch gesetzten Ordnung steht. Recht und Ethos sind also im Kern keine menschlichen Machwerke, sondern Auswirkung des Ursinnes.

Allerdings spricht die Natur (als gefallene) nicht mit einhelliger Stimme, sondern muss selbst gedeutet werden. Eben dies ist die Aufgabe der Vernunft. Natur und Vernunft sind die beiden Quellen eines Rechts, das über einer positivistisch gesetzten Ordnung steht.

Recht und Ethos sind also im Kern keine menschlichen Machwerke, sondern Auswirkung des Ursinnes. Im Johannesprolog (Joh 1) wird er Logos genannt. Das Evangelium zeichnet ihn als Grund und Bürge des Guten.

„Die Welt der Vernunft und die Welt des Glaubens – die Welt der säkularen Rationalität und die Welt religiöser Gläubigkeit – brauchen einander.“ Die Rede zeigt und führt – vielmehr: lässt sich führen – bis in die Tiefen des Logos. Damit steht der Vorhof für das Innere des Tempels bereits offen; von dort kann der Ursinn ausstrahlen bis in die Parlamente.

Portrait der Autorin und Religionsphilosophin Gerl-Falkovitz

Die Autorin, Professor Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, war bis 2011 Inhaberin des Lehrstuhls für Religionsphilosophie und vergleichende Religionswissenschaften an der TU Dresden und leitet nun das „Europ. Institut für Philosophie und Religion“ (EUPHRat) an der Philosophisch-theologischen Hochschule Benedikt XVI. in Heiligenkreuz.

zurück zur Übersicht