zum Benedikt Anliegen

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Benedikt-Anliegen

„Große Aufrichtigkeit“

In einem Beitrag für die Vatikanzeitung „Osservatore Romano“ verteidigt Kardinal Fernando Filoni den emeritierten Papst. Benedikt XVI. sei das Thema Missbrauch entschlossen angegangen und habe „spürbares Einfühlungsvermögen“ gezeigt.

 

von Kardinal Fernando Filoni

Portrait Kurienkardinal Fernando Filoni in rot gekleidet, Leiter der Kongregation für die Evangelisierung der Völker, am 18. Februar 2012.

Wer ist Benedikt XVI.? Eine Frage, die in diesen Tagen in den Gedanken vieler Menschen auftaucht - Tagen großen Leids für ihn selbst wie für die Kirche.

Zu Beginn seines Pontifikats (2005) hat er über sich sagen wollen, er sehe sich als einfachen Knecht im Weinberg des Herrn, wobei er sich auf ein Gleichnis bezog, das im Evangelium des Matthäus (Mt 21,33-43) wiedergegeben wird. Darin verurteilt Jesus das Verhalten derer, die durch ihre Treulosigkeit den Weinberg, der unter so großer Aufopferung und mit solcher Hingabe gepflanzt worden war, heruntergewirtschaftet haben. In jenen Weinberg, den Gott liebte, hatte der Herr Arbeiter gesandt, um ihn pflegen zu lassen. Der Weinberg gehörte ihm, und die Arbeiter hätten ihn hegen und nicht an sich reißen sollen.

Papst Benedikt XVI. sitz an seinem Schreibtisch und unterschreibt am 3. Dezember 2007 im Vatikan in Anwesenheit von Monsignore Fernando Filoni seine zweite Enzyklika "Spe salvi".

Vor allem seit Benedikt XVI. mich in seiner frühen Amtszeit als Papst von den Philippinen – wohin er mich als seinen päpstlichen Vertreter entsandt hatte - nach Rom berufen hatte, habe ich ihn persönlich kennen lernen können. Ich erinnere mich gut an unser erstes Treffen; es war Anfang Juli 2007. Er hatte mich zum Substituten des Staatssekretariats ernannt, also zu einem seiner engsten Mitarbeiter. Das erlaubte mir, ihn wenigstens einmal pro Woche zu sehen, um über Fragen zu reden, die ihm am Herzen lagen, und entsprechende Anweisungen in Bezug auf viele Aspekte des Lebens der Kurie und der Kirche entgegenzunehmen.

Der Abteilung des Substituten war auch die Organisation der päpstlichen Reisen anvertraut, so dass ich während der vier Jahren, in denen ich dieses Amt ausgeübt habe, bevor er mich zum Präfekten der Kongregation für die Evangelisierung der Völker ernannte, Gelegenheit hatte, ihn in die verschiedenen Länder zu begleiten, in die ihn seine apostolischen Reisen führten.

In jenen Jahren wurde das Thema Pädophilie in der Kirche virulent, wenn auch das Ausmaß, das nach und nach zum Vorschein kam, noch nicht bekannt war. Für mich war jedoch immer klar, dass Benedikt diese Frage mit aller Entschlossenheit angehen wollte. Dabei kann ich vor allem seine äußerst hohe moralische und intellektuelle Lauterkeit bezeugen. Daran besteht kein Zweifel, auch wenn es heute nicht an Stimmen fehlt, die sich auf das Gegenteil versteifen. Es steht ihnen frei, dies zu tun, doch ich kann bezeugen, dass ich bei ihm nie auch nur den Hauch eines Versuchs gesehen hätte, etwas zu verbergen oder herunterzuspielen. Genauso wenig wie seine feinfühlige Behandlung von Dingen mit tiefer moralischer Bedeutung als Unsicherheit oder sonst etwas angesehen werden kann.

Ich weiß auch um seine enorme Beunruhigung angesichts schwerwiegender kirchlicher Fragen und erinnere mich deutlich an einen Satz von ihm, den er mit einem tiefen Seufzer aussprach: „Wie unergründlich ist doch der Abgrund, in den man durch das menschliche Elend fällt!“. Das besorgte ihn zutiefst, und manchmal war er für lange Zeit schweigsam. Um so mehr, wenn dieses menschliche Elend Männer der Kirche berührte.

Er verfügte über ein spürbares Einfühlungsvermögen für die Opfer. Als bei der Vorbereitung der apostolischen Reisen (Vereinigte Staaten, Australien usw.) Anfragen zu Begegnungen mit Missbrauchsopfern an ihn gestellt wurden, sprach er mit mir darüber. Er wollte meine Gedanken dazu hören, wie diesen Anfragen nachzukommen sei. Ich kann sagen, dass er zwei Aspekte nannte, auf die er großen Wert legte: 1. große Rücksicht auf die Opfer, deren Identität zu schützen war. Aus diesem Grund wollte er, dass die Begegnungen fernab von Fernsehkameras oder anderen optischen Aufnahmegeräten stattfanden. Er wollte keine Zeugen, doch er wollte, dass ich zu den wenigen gehörte, die im Hintergrund dabei waren. 2. Er wollte, dass die Begegnung nicht eine Art „Audienz“ war, mit einem einfachen Händedruck und einem raschen Blick, sondern ein echtes Gebetstreffen. Sie sollte eine geistliche Dimension haben und vor Gott erfolgen, den man um Barmherzigkeit anflehen musste.

Daher kam er dem Gedanken nach, dass die Begegnungen in einer Kapelle vor dem Allerheiligsten stattfinden sollten. Nach einigen Minuten des stillen Gebets mit den Opfern, nach schweren Momenten des menschlichen Austauschs, betete er gemeinsam mit ihnen das Vaterunser. Er schenkte jedem Einzelnen seine Aufmerksamkeit, hörte ihnen sichtlich und spürbar bewegt zu und überreichte am Ende jedem von ihnen einen Rosenkranz.

Bei diesen Begegnungen war nicht nur die Demütigung zu spüren, welche die Opfer erlitten hatten, sondern es wurde auch die Demütigung eines Mannes der Kirche offenbar, der sich nie hätte vorstellen können, dass es zu so entwürdigenden Handlungen hätte kommen können und dennoch jetzt den Balsam des Gebets und den Trost der Solidarität im Namen jenes Gottes anbot, der sich selbst erniedrigt und das Menschsein und ihre Sünden auf sich genommen hatte.

Bei jeder Begegnung zeigte sich ein echtes menschliches und geistliches Empfinden, das verletzt worden war. Brüder und Schwestern, die zutiefst bewegt waren, wurden Gott anvertraut. Die ganze Kirche richtete eine Bitte der Vergebung an Gott, und es wurde das Bemühen Benedikts deutlich, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit zu verbinden, das also, was er dann durch Maßnahmen getan hat, die bis zu jenem Moment nicht existierten.

Das ist der Benedikt XVI., den ich aus der Nähe kennen gelernt habe. Ein „Hirte“, ein „Arbeiter“ im Weinberg des Herrn, dem – immer – eine tiefe „Sorge für alle Kirchen“ und für eine gequälte Menschheit, eine herabgesunkene Menschheit, eine Menschheit ohne Gott am Herzen lag – im Einklang mit dem, was er an jenem fernen Nachmittag des 25. April 2005 beim Besuch der Basilika St. Paul vor den Mauern, der Basilika des Völkerapostels, zu sagen gehabt hatte.

Der Originalbeitrag erschien am 29. Januar 2022 im „Osservatore Romano“. Die Übersetzung aus dem Italienischen besorgte Claudia Reimüller.


Als Hintergrundinformation zum Kampf von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. gegen sexuellen Missbrauch in der Kirche finden Sie hier ein Dossier der überregionalen katholischen Zeitung „Die Tagespost“ sowie Links zu wichtigen Texten.

Die aktuelle Berichterstattung der Zeitung „Die Tagespost“ können Sie hier verfolgen:
 www.die-tagespost.de 

Papst Benedikt XVI. sitzt am Schreibtisch, vor ihm ein großes Buch und er schreibt etwas.

Der Brief von Papst Benedikt XVI. an die Katholiken in Irland: 

Papst Benedikt XVI. gibt eine Pressekonferenz an Bord eines Flugzeuges.

Gespräch mit Journalisten beim Flug nach Großbritannien:

Wissenswertes zur entscheidende Rolle von Joseph Kardinal Ratzinger bei der Revision der kirchlichen Strafrechtsordnung bietet ein Beitrag von Juan Ignacio Arrieta, der 2010 im L'Osservatore Romano veröffentlich wurde.

Den Artikel finden Sie hier: 

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