Wallfahrt
Wallfahrt ist eine der Urgebärden der Menschheit, soweit wir überhaupt in ihrer Geschichte zurückschauen können. Der Mensch macht sich immer wieder auf den Weg: Er sucht nach dem Größeren. […] Weil eine so tiefe Wahrheit in der menschlichen Urgebärde des Suchens und des Unterwegsseins steckt, darum hat Israel den Auftrag zur Wallfahrt in Gottes offenbartem Gesetz als seinen Willen neu und in neuer Auslegung empfangen.
An der Schwelle zum Heiligen Land nach den vierzig Jahren der Wüstenwanderung wurde ihm gesagt: Auch daheim sollt Ihr ein Volk von Wandernden bleiben. Dreimal im Jahr sollt Ihr nach Jerusalem gehen, gleichsam immerfort unterwegs aus dem Alltag ins Andere, in die Gemeinschaft mit Gott und miteinander, und aus diesem Größeren wieder zurück in den Alltag. Wanderer sollt ihr bleiben, Menschen unterwegs, die wissen, dass wir immer noch die endgültige Stadt suchen.
Solche Wallfahrten hatten in Israel auch den Sinn, dieses verstreute Volk immer wieder zur Einheit zueinander zu bringen, es die Brüderlichkeit der zwölf Stämme Israels erfahren zu lassen. Es sollte so immer wieder eins werden von der Einheit des einen Gottes her, der allein letztlich Einheit und Versöhnung unter den Menschen stiften kann. So lässt sich eine vielfache Sinngebung der Wallfahrt in Israel konstatieren: Es geht um die Einheit des Volkes, um das sichtbare Darstellen der Einheit des nur einen Gottes. Es geht darum, auf dem Weg zu bleiben, die Vorläufigkeit all unserer Dinge nicht zu vergessen.
Dies alles ist auch im Christentum nicht überholt. Deswegen gehört Wallfahrt von den frühesten Zeiten an auch zu den Gestalten, in denen sich der christliche Glaube ausdrückt. Es konnte ja auch die Ursehnsucht des Menschen nicht erlöschen, manchmal aus dem Gewöhnlichen des Alltags herauszufinden, Abstand zu gewinnen, frei zu werden. […]
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Papst Benedikt XVI. am 12. Mai 2010 in Fatima.
Es gehört zur Wallfahrt die Einfachheit, die das Pilger-Sein annimmt. Denn wenn wir nur überall den gleichen Konsum und denselben Lebensstil möchten, dann können wir so weit herumfahren in der Welt, wie wir wollen, wir bleiben immer bei uns. Wirklich »anderes« können wir nur erleben, wenn wir selbst anders sind und anders leben, wenn wir in der Einfachheit des Glaubens von innen her Pilgernde werden. Dazu gehört die innere Zielstrebigkeit des Glaubens. In der Wallfahrt geht es nicht um irgendwelche Sehenswürdigkeiten oder Erlebnisse, die dann doch nicht aus uns heraus ins wirklich Neue führen. Das Ziel der Wallfahrt ist letztlich nicht eine Sehenswürdigkeit, sondern das Aufbrechen hin zum lebendigen Gott.
Wir versuchen es, indem wir die Stätten der Heilsgeschichte aufsuchen. Ihr innerer und äußerer Weg geht nicht in die Richtung des Beliebigen. Wir wandern gleichsam in die Geographie der Geschichte Gottes hinein, dorthin, wo er selbst seine Wegmarkierungen aufgerichtet hat. Wir gehen auf das uns Vorgezeichnete und nicht auf das Selbstgesuchte zu. Indem wir in seine Geschichte hineingehen und uns den Zeichen zuwenden, die die Kirche uns aus der Vollmacht ihres Glaubens heraus setzt, gehen wir auch zueinander. Indem wir Wallfahrende werden, können wir das besser empfangen, was der Tourismus sucht: das Andere, den Abstand, die Freiheit und die tiefere Begegnung. Nicht bloße Ausfahrt soll die Wallfahrt sein, sondern ein Hineingehen in die Geschichte, die Gott mit uns gemacht hat: in die Zeichen des Heils, die er uns aufgestellt hat, in die Einfachheit, die eines der wesentlichen Zeichen des Glaubens ist.
Vorwort, zu: Rosel Termolen (Hg.), Wallfahrten in Europa. Pilger auf den Straßen Gottes, Aschaffenburg 1985, 6 –7.