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Warum die Vernunft den Glauben braucht

In „Der Gott des Glaubens und der Gott der Philosophen“ legt Joseph Ratzinger den Finger auf die Wunde modernen Denkens. Er warnt, die Vernunft laufe Gefahr, sich selbst zu reduzieren und zeigt, dass das Christentum die Ansprüche der Vernunft ungleich besser begründen kann als der Materialismus.

 

von Professor Dr. Rolf Schönberger

Der Gott des Glaubens und der Gott der Philosophen

Wer sich mit Gott als Thema der Vernunft auseinandersetzen will, greift zu diesem frühen Werk aus dem Jahr 1959. Auch im 21. Jahrhundert aktuell, denn das Christentum hat nichts mit Schwärmerei oder subjektivem Wohlbefinden zu tun. Vernunft ist ja heute gefragt, wird aber selten angewendet.

Wenn der Mensch nach den wesentlichen Dingen seines Lebens, nach dem Woher und Wohin, nach seinem Sollen und Dürfen, nach Leben und Sterben nicht mehr vernünftig fragen kann, sondern diese entscheidenden Probleme einem von der Vernunft abgetrennten Gefühl überlassen muss, dann erhebt er die Vernunft nicht, sondern entehrt sie. 

 

(Joseph Ratzinger, „Der Gott des Glaubens und der Gott der Philosophen in „Joseph Ratzinger Gesammelte Schriften (JRGS) III/1, 535)

Die oben zitierte Passage aus einem Vortrag aus den späten 1900er Jahren artikuliert einen Gedanken, der in der Theologie und in Ansprachen Joseph Ratzingers in vielen Varianten wiederkehrt. Er ist bemerkenswert – und das in mehrfacher Hinsicht.

Was in diesem kurzen Zitat nicht vorkommt, ist die Begründung. Diese findet sich aber an anderen Stellen: Die Unmöglichkeit rationaler Auseinandersetzung zu den genannten Lebensfragen liegt an einem bestimmten, dominant gewordenen Vernunftbegriff. Rationalität hat verschiedene Formen, sie kann zweifellos auch die Form der Zweckrationalität haben: Etwas wird erklärt oder auch ins Werk gesetzt nach dem Kriterium der Effizienz oder Funktionalität. Das kann eine Absicht sein, die durch eine entsprechende Handlung realisiert wird. Es kann aber auch eine Funktion sein, die durch Handlungen und soziale Strukturen erfüllt wird, ohne dass diese Erfüllung explizit beabsichtigt ist.

Wer hilft der Vernunft aus der Krise? Im Bild: Raffaels Schule von Athen.

Die Regentänze der Hopi-Indianer und die Frage nach der Rationalität

Die vielzitierten Regentänze der Hopi-Indianer erzeugen keinen Regen, lassen aber die Gemeinschaft in einer großen Notlage zusammenrücken. Dies ist gewiss auch eine heilsame Funktion, aber Zwecke sind ganz unterschiedlicher Qualität. Was aber ist das Kriterium für deren Beurteilung?

Das bekannte Arsenal menschlicher Ambitionen – Image, Macht, Profit – kann als Erklärung weithin dienen, aber eben nicht zur Rechtfertigung. Und an dieser Stelle wird das Problem sichtbar: Wenn Rationalität nur die funktionale Beziehung auf Zwecke meint, dann kann man die Zwecke selbst nicht mehr rational beurteilen und alle Ansprüche darauf, dass sie gerechtfertigt sind, können sich nicht mehr rational begründen und lassen sich nicht mehr rational kritisieren. Überhaupt fallen alle Orientierungen, die nicht einzelne Handlungen oder ihre Interaktion betreffen, aus dem rationalen Diskurs heraus.

Wo heute öffentlich vom Glauben die Rede ist, spielen Gesichtspunkte der Einsichtigkeit oder gar der Wahrheit weithin keine Rolle.

Das betrifft naheliegenderweise auch die Religion. Wo heute öffentlich vom Glauben die Rede ist, spielen Gesichtspunkte der Einsichtigkeit oder gar der Wahrheit weithin keine Rolle. Dass Menschen im Glauben Halt finden, gut; dass sie Trost finden, auch gut. Dies ist für die Betroffenen selbst ebenso gewichtig, wie es für Außenstehende belanglos ist. Denn es geht um eine existentielle Funktion und was diese beim Einzelnen zu erfüllen vermag, kann man, so scheint es, gar nicht beurteilen oder gar kritisieren. Aber es ist eben allem Anschein nach völlig individuell.

Nur ist dies wohl nur der Anschein. Denn an irgendeiner Stelle kann eben doch die Frage wieder auftauchen: Worauf genau gründet jemand denn sein Vertrauen? Ist das Vertrauen seines Glaubens tatsächlich gerechtfertigt? Wenn es aus einer Gewohnheit, einem purem Entschluss und einem blinden Wollen erwächst, dann ist natürlich dagegen kein argumentatives Kraut gewachsen. Aber diese Lage scheint doch selbst schon ein Teil jener Krise zu sein, die in dem angeführten Text zwar nicht beschrieben, aber doch benannt wird. Denn wie sollte man auf solche Fragen überhaupt reagieren können? Solche Fragen bleiben dann unvermeidlich ausgeblendet, denn die erforderlichen Mittel, sie zu stellen und über sie produktiv nachzudenken, sind nicht nur Hand.

Max Horkheimer, einer der führenden Köpfe der Frankfurter Schule, hat eine lehrreiche "Kritik der instrumentellen Vernunft“ geschrieben.

Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Wesen - aber was heißt das?

Nun  ist der Mensch nach alter Lehre ein vernunftbegabtes Lebewesen, also ein Lebewesen, das ein Bewusstsein und irgendeine Deutung seiner selbst hat, das sich sprachlich mitteilt und das über Kategorien absoluter Unterschiede (gerecht oder ungerecht, nicht bloß erlaubt oder nicht erlaubt) verfügt. Aber was genau diese Vernunft ist, mit der prinzipiell alle Menschen begabt sind, diese Bestimmung liegt natürlich nicht in der Natur. Wie die angedeuteten Beispiele zeigen, handelt es sich nicht um die rein akademisch oder theoretisch bleibende Unterscheidung zweier Wortbedeutungen.

Vernünftig ist ja kein eherner Standard, dem man sich entweder aussetzt oder den man umgeht. Er unterliegt ja selbst der Diskussion. Und so wäre es seinerseits unvernünftig, der Religion die Wortmeldung zu verbieten. So sehr sie sich nicht selten kleinlaut oder diplomatisch-nebulös gibt, prinzipiell betrachtet ist sie überaus berechtigt und dringlich. Aber sie ist auch heikel. Denn der Text deutet noch etwas an, was bisher ausgeblendet blieb. Es geht gar nicht allein um die Alternative von vernünftig oder frei von Maßstäben der Rationalität zu bleiben. Die sogenannte  Vernunft ist selbst der Gefahr ausgesetzt, sich zu reduzieren.

Zweckrational ist viel: von der fortschreitende Zerstörung der Umwelt bis zur Ausbreitung rechtsfreier Räume in der Weltwirtschaft.

Darauf hat m. E. Ratzinger ganz zurecht und dankenswerterweise den Finger gelegt. Denn es geht ja nicht um einen bloßen Bedeutungsunterschied zwischen einer weit oder einer eng gefassten, einer abstrakten oder substantiellen Vernunft. Solche Konzepte – das betrifft natürlich längst nicht nur die Vernunft – bleiben nicht folgenlos (reichlich verharmlosend ausgedrückt): weder für das Selbstverständnis des einzelnen Menschen noch für den öffentlichen Diskurs. Denn der engere Vernunftbegriff, also genauer gesagt die bloß instrumentelle Vernunft präsentiert sich als das Konzept der Rationalität überhaupt.

Nur: Zweckrational ist viel: von der fortschreitende Zerstörung der Umwelt bis zur Ausbreitung rechtsfreier Räume in der Weltwirtschaft. Aber ob die Zweck selbst gerechtfertigt sind, muss ebenso rational erörtert werden können wie die Lebensorientierungen der Menschen – gerade im Sinne ihrer Koexistenz.

Die Vernunft als Organ theoretischer und praktischer Ansprüche kann kein Produkt des Nicht-Vernünftigen sein.

So sehr der Glaube des Christentums einen deutungsfähigen Zusammenhang bildet – in Ratzingers Predigten kehrt der Begriff der Ganzheit nicht zufällig oftmals wieder: Was außer einen Zusammenhang kann man denn verstehen? –, er muss doch ein „Licht über meinem Pfad" sein und kein Rad, das sich dreht, „ohne dass Anderes sich mitbewegt" (Wittgenstein). Es könnte sich also zeigen: So sehr der christliche Glaube faktisch ein partikularer Inhalt ist, so enthält er doch universelle Maßstäbe oder doch den Anspruch, solche zu enthalten und sie zum allgemeinen Wohl zur Geltung bringen zu können.

Einer der führenden Köpfe der Frankfurter Schule, Max Horkheimer, hat eine lehrreiche ›Kritik der instrumentellen Vernunft‹ geschrieben und dies ebenfalls nicht aus rein theoretischen Motiven. Aber das Christentum kann – auch darauf hat Joseph Ratzinger immer wieder hingewiesen –, die Ansprüche der Vernunft ungleich besser begründen als der Materialismus. Nämlich damit, dass die Vernunft als Organ theoretischer und praktischer Ansprüche kein Produkt des Nicht-Vernünftigen sein kann, vielmehr umgekehrt ein Licht des Logos, der „im Anfang“ ist.

Der Autor, Professor Dr. Rolf Schöneberger, hatte bis zu seiner Emeritierung den Lehrstuhl für Geschichte der Philosophie an der Universität Regensburg inne.

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