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Benedikt-Anliegen

Die Ideologie des Augenblicks und der Glaube der Kirche

Beim Treffen der beiden Ratzinger Schülerkreise in Rom sprach Professor Mauro Gagliardi über den Offenbarungbegriff in der Theologie des emeritierten Papstes. Seine Ausführungen sind auch mit Blick auf aktuelle Synodal-Diskussionen erhellend. Wir dokumentieren sie im vollen Wortlaut. 

Papst Benedikt XVI. begrüßt Menschen in Altötting am 11. September 2006. Er schüttelt die Hände der Erwachsenen und Kinder.

Joseph Ratzinger hat sich seit seiner Habilitationsschrift, die dem Studium des heiligen Bonaventura gewidmet war, eingehend mit dem Thema der Offenbarung beschäftigt. Dort vertiefte Ratzinger das seraphische Verständnis von Offenbarung, Schrift und Tradition, und aus diesem Verständnis entwickelte der bayerische Theologe seine eigene Theologie der Offenbarung. Diese Theologie hat Ratzingers Sichtweise während seiner gesamten theologischen Laufbahn beeinflusst und sich auf die Art und Weise ausgewirkt, wie er verschiedene, damit verwandte Themen wie Glaube, das Wesen der Theologie, die Rolle des kirchlichen Lehramtes, die biblische Hermeneutik, die Entwicklung der Lehre und andere behandelt hat.

Der hier veröffentlichte Text enthält einen Vortrag, der anlässlich des Treffens der beiden Ratzinger Schülerkreise am 23. September 2022 in Rom gehalten wurde. Dieser war wiederum eine Zusammenfassung des siebten und letzten Teils eines Bandes zu diesem Thema, den der Autor dieses Beitrags im Jahr 2023 in italienischer Sprache veröffentlichen möchte.

Zum Abschluss dieser kurzen Vorbemerkung lässt sich feststellen, dass beim Studium der Texte Ratzingers, die sich mit den behandelten Themen befassen, zwei Dinge auffallen: 1) Wie bereits erwähnt, hat Ratzinger, ausgehend von der Studie über den Offenbarungsbegriff des heiligen Bonaventura, seine wesentliche Sichtweise über den gesamten Zeitraum seiner theologischen Tätigkeit fast unverändert beibehalten hat. 2) Obwohl das von den Schülerkreisen für die römische Konferenz vorgegebene Thema nicht mit der Synodalität zu tun hatte, finden viele Dinge, die in der Theologie der Offenbarung und in den hermeneutischen Überlegungen Ratzingers enthalten sind, auch in diesem Bereich fruchtbare Anwendungen.

 

Offenbarung, Hermeneutik und lehrmäßige Entwicklung bei Joseph Ratzinger

von Professor Mauro Gagliardi

 

1

Eine Theorie der Lehrentwicklung, die auf der Grundlage von Ratzingers Denken erarbeitet wird, muss sich in erster Linie auf seine Theologie der Offenbarung stützen. In der Theologie der Offenbarung wird nämlich definiert, was mit „Dogma“ und „Lehre“ gemeint ist. Ratzinger fasst seine Auffassung kurz zusammen:

„Die Offenbarung Jesu Christi ist [...] nicht ein auf die Erde gefallener Meteor, der nun als Gesteinsmasse irgendwo herumliegt, wovon man Gesteinsproben nehmen und im Labor analysieren kann. Offenbarung, also das Zugehen Gottes auf den Menschen, ist immer größer als das, was in Menschenworte gefasst werden kann, größer auch als die Worte der Schrift. Die Schrift ist das wesentliche Zeugnis der Offenbarung, aber Offenbarung ist etwas Lebendiges, weiter und mehr – zu ihr gehört auch das Ankommen und das Vernommenwerden, sonst ist sie eben nicht Offenbarung geworden. Wenn es diesen Überhang von Offenbarung über die Schrift hinaus gibt, dann kann nicht Gesteinsanalyse – historisch-kritischen Methode – das letzte Wort über sie sein, sondern dann gehört der lebendige Organismus des Glaubens aller Jahrhunderte zu ihr. Genau dieser Überhang von Offenbarung über die Schrift, den man nicht noch einmal in einen Kodex von Formeln fassen kann, besitzt katholischerseits den epistemischen Status der ‚Überlieferung.‘“ [1]

Diese Auffassung wurde durch das Studium des heiligen Bonaventura in frühen Jahren geformt, das in den Kontext jener Jahre gestellt werden muss, die unter anderem von diesen Faktoren geprägt waren:

a)

Die Debatte über die Frage nach dem Verhältnis von Heilsgeschichte und Metaphysik. Die Neuscholastik bevorzugte eine inhaltliche oder intellektuelle Sicht der Offenbarung, die als Mitteilung wahrer Lehren durch Gott verstanden wurde. Der heilsgeschichtliche Ansatz hingegen betrachtete die Offenbarung als geschichtliche Selbstoffenbarung Gottes an sein Volk und verwarf damit die Vorstellung, dass die Offenbarung eine bloße Belehrung sei. Sie stellt vielmehr eine Bundes- und Heilsbeziehung dar. Ratzingers Theologie nimmt diese letztere Tendenz auf, lässt aber die Idee der Offenbarung als Übertragung von Inhalten nicht völlig verschwinden, auch wenn diese Bedeutung beinahe zweitrangig wird. Sie ist zweitrangig, wird aber nicht vollständig geleugnet. Offenbarung ist vor allem göttliches Handeln, aber auch die Übermittlung einer Lehre. [2]​​​​​​​

"Das Lorscher Evangeliar": Seite 37, Textzierseite, mit dem Anfang des Evangeliums nach Matthäus: Incipit Evangelium secundum Matthaeum. Liber generationis Iesu Christi filii David filii Abraham ("Es beginnt das Evangelium nach Matthäus. Das Buch der Generationen Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams").

b)

Die dogmatische Definition der Aufnahme Mariens in den Himmel von 1950. In der Diskussion, die auf die Verkündigung des Dogmas durch Pius XII. folgte, waren sich Geiselmann und Ratzinger in der Auffassung einig, dass die Tradition nicht als Depot geoffenbarter Wahrheiten zu verstehen sei, auch wenn sie später in Bezug auf die Formulierung einer allgemeinen Theorie zur Erklärung des Verhältnisses von Schrift und Tradition unterschiedlicher Meinung waren. Während Geiselmanns Theorie zum protestantischen sola Scriptura führen kann, [3] sollten für Ratzinger Schrift und Tradition nicht getrennt, sondern die dynamische Durchdringung dieser beiden Elemente, die untrennbar sind, untersucht werden.

c)

Eine erneuerte theologische Analyse des Glaubensakts[4]​​​​​​​ Dieses andere kontextuelle Element veranlasste Ratzinger zu der These, dass der Begriff der Offenbarung immer auch das Subjekt einschließt, das die Offenbarung im Glauben empfängt, denn wo niemand die Offenbarung wahrnimmt, da hat keine Offenbarung stattgefunden. [5]​​​​​​​

 

d)

Der Einfluss des historiographischen Positivismus auf einen Teil der katholischen Theologie. Die Frage nach den „zwei Quellen“ der Offenbarung, wie sie in der Schultheologie bis zu seiner Zeit gestellt wurde, sei eine negative Frucht des Einflusses des Historismus, [6]​​​​​​​ so der bayerische Theologe. Die Quellen sind natürlich wichtig, aber das Wort Gottes kann nicht einfach durch einen historischen Ansatz, der den wörtlichen Sinn der Texte rekonstruiert, erfasst werden. Im Gegenteil: Die Schrift spricht dann wirklich, ist dann wirklich Offenbarung, wenn sie geistig verstanden wird. Dieses vierte Element des Kontextes, in dem Ratzinger seine Theologie der Offenbarung entwickelte, veranlasste ihn, nicht nur die Frage der Theologie der „zwei Quellen“ zu behandeln, sondern mit einer gewissen Systematik auch eine Reflexion über die Hermeneutik der Schrift zu entwickeln. [7]​​​​​​​​​​​​​​

2

Nach Ratzinger haben der Begriff und die Wirklichkeit der Offenbarung Vorrang vor dem Begriff und der Wirklichkeit des depositum fidei, weil die geoffenbarten Lehren nur in einer persönlichen Beziehung zum sich selbst offenbarenden Gott erfasst werden können. Daraus folgt, dass die Theologie der „zwei Quellen“ durch eine Theologie der „zwei Ströme“ [8] ersetzt werden muss. Schrift und Tradition sind Träger der persönlichen Offenbarung Gottes. Die Offenbarung geht dem voraus und übersteigt das, was den Zugang zu ihr ermöglicht. Die Heilige Schrift und die Tradition öffnen den Weg zur Offenbarung, anstatt sie zu enthalten.

Einer der Punkte, auf die Ratzinger immer wieder zurückkommt, um seine Ablehnung der Zwei-Quellen-Theologie zu begründen, ist, dass dahinter eine unzureichende Unterscheidung zwischen ordo essendi und ordo cognoscendi stünde. „Im Ordo essendi, von dem zunächst auszugehen ist, stellen Schrift und Tradition nicht die Quellen der Offenbarung dar, sondern ist umgekehrt die Offenbarung die vorausliegende Quelle, aus der Schrift und Tradition als die beiden Ströme der Übermittlung der einen Offenbarung entspringen, d. h. die Offenbarung ist die übergeordnete Größe, die eine Quelle, wie es die gesamte vortridentinische Theologie und das Tridentinum selbst sich ausdrücken.“ [9]​​​​​​​

Schrift und Tradition konnten in der theologischen Sicht der „zwei Quellen“ ohne weiteres als voneinander unabhängig betrachtet werden. In diesem Punkt ist die Korrektur, die Ratzinger vorgenommen hat, wichtig.
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Papst Benedikt in weiß gekleidet, er läuft über einen Platz, man kann seine roten Schuhe erkennen.

3

In der Offenbarung gibt es immer zwei Komponenten: ein äußerlich wahrnehmbares geschichtliches Zeichen (apparitio), das für sich genommen bedeutungslos bleibt, und eine intime Selbstoffenbarung Gottes an den Menschen (revelatio). [10] Beide zusammen bilden die manifestatio Gottes. [11]​​​​​​​ Auch wenn Ratzinger betont, dass die revelatiowichtiger ist als die bloße apparitio, weil nur mit der revelatio die apparitio einen Sinn erhält, [12]​​​​​​​ so steht die revelatio(oder innere Erleuchtung) doch immer im Zusammenhang mit dem von Gott gegebenen geschichtlichen und äußeren Zeichen. Es stimmt, dass für Bonaventura das äußere Zeichen als Anregung dient, um den Intellekt auf die revelatio hin zu lenken – und in diesem Sinne scheint es seine Funktion auszuschöpfen, wenn die revelatio (auch inspiratio oder illuminatio genannt) vom Menschen empfangen wird. Aber auch hier zeigt die Tatsache, dass letzteres nur in Verbindung mit ersterem geschehen kann, dass die Funktion des sichtbaren und geschichtlichen Elements der göttlichen Offenbarung tatsächlich bestehen bleibt, zumindest als ständiger Kontrollpunkt für die Eingebungen des Heiligen Geistes an die Kirche und die einzelnen Gläubigen. In dem Augenblick, in dem Christus in den Himmel auffährt, verschwindet das historische Element der Offenbarung nicht, sondern ändert sich: Anstelle des Sehens tritt das Hören, anstelle des Fleisches Christi die Lehre der Kirche (d. h. das Hören des Wortes im Glauben).[13]​​​​​​​​​​​​​​

4

Ratzinger definiert revelatio im Sinne von Bonaventura nicht primär in Bezug auf die Vergangenheit, sondern auf das gegenwärtige Handeln Gottes im Menschen. Revelatio bedeutet nicht vor allem, „was Gott in der Vergangenheit gesagt hat“, sondern „was Gott dem Gläubigen in der Gegenwart immer wieder sagt“. Das philologische Studium hat ihn zu der Feststellung geführt, dass Bonaventura nie das Wort revelatio verwendet, um damit die Heilige Schrift zu bezeichnen, während der seraphische Lehrer sich in diesen Begriffen ausdrückt, wenn es um ein Verständnis der Schrift geht. [14]​​​​​​​ Auf jeden Fall bleibt die Tatsache bestehen, dass wir die Lehre von außen empfangen, von anderen (der Kirche, dem Heiligen Geist), und dass wir sie nicht erschaffen, denn sie wird uns im Gegenteil gegeben.

 

5

Aus der vorangegangenen Schlussfolgerung ergibt sich, dass die Beziehung zu Gott nur im Volk Gottes und nicht auf individualistische Weise möglich ist. Nur in der Kirche kann man das Wort Gottes empfangen und damit auch verstehen. Die Heilige Schrift ist keine Offenbarung als totes historisches Buch; sie wird zur Offenbarung nur in ihrer Verkündigung, in den Händen der lebendigen Kirche. Daraus folgt: „Überlieferung werde hier verstanden als die Explikation des in der Schrift bezeugten Christusgeschehens in der Geschichte des Glaubens in der Kirche.“ [15]

Tradition ist für Ratzinger nicht in erster Linie ein Inhalt, sondern ein Akt. Tradition ist nicht eine Reihe von Lehren, die nicht in der Bibel stehen, sondern die Überlieferung der Bibel selbst. Sie ist eher als Ereignis denn als Inhalt zu verstehen. [16]​​​​​​​​​​​​​​ Diese Übermittlung ist jedoch keine bloße Wiederholung, sondern eine echte Erläuterung. In diesem Zusammenhang sind zwei Feststellungen zu treffen:

a)

Bei aller Akzeptanz dieses dynamischen Akzents muss festgehalten werden, dass die Tradition sowohl Handlung als auch Inhalt ist. Das Hauptelement wäre die Aktion, aber der Inhalt sollte nicht völlig ausgeschlossen werden. Ratzinger sprach als junger Professor von der „Unmöglichkeit“, einen materiellen oder inhaltlichen Traditionsbegriff aufrechtzuerhalten, denn „es zeigte sich immer deutlicher, dass es keine Einzelwahrheiten gibt, die als solche von den Aposteln an mündlich in der Kirche weiterüberüberliefert worden wären; schon die zweite Generation nach den Aposteln verfügte nicht mehr über einwandfreie apostolische Mitteilungen über die Schrift hinaus und nahm auch gar nicht in Anspruch, solche Nachrichten zu besitzen.“ [17]

In der Tat scheint es unbestreitbar, dass die Väter – wie sie manchmal ausdrücklich schreiben – glaubten, dass sie nichtbiblische Lehren bewahrten, die auf die Apostel zurückgehen. Doch wenn dies der Fall ist, wie lässt sich dann die fehlende Kontinuität bei der Weitergabe solcher Lehren erklären? Wie kommt es, dass, wie unser Autor betont, vor dem 5. Jahrhundert keine Erwähnung der Himmelfahrt Mariens zu finden ist? Und warum verschwinden andere Lehren eine Zeit lang und tauchen dann wieder auf?

Dabei ist erstens zu bedenken, dass nicht in allen Fällen das, was nicht schriftlich dokumentiert ist, nie existiert hat – sonst würde man in den historiographischen Positivismus zurückfallen, d. h. man würde behaupten, dass das, was nicht irgendwo aufgeschrieben ist, nicht existiert hat; und das ist das Risiko, das Ratzinger zu vermeiden suchte. Zweitens ergibt sich eine weitere mögliche Antwort auf diese Fragen aus dem Begriff einer „entstellenden Tradition“, an den der bayerische Theologe in seinem Kommentar zur DV erinnert. [18] Da die Tradition nicht als eine allzeit wachsende und sich ständig verbessernde Kraft zu verstehen ist, kann es vorkommen, dass eine von den Aposteln stammende Lehre für bestimmte Zeiträume, sogar für lange Zeiträume, sozusagen unter dem Sand begraben bleibt, dann aber, wie ein karstiger Fluss, auch nach Jahrhunderten wieder ans Licht kommt. Sie wurde im Gebet, in der mündlichen Verkündigung, vielleicht von einigen wenigen, bewahrt; dennoch war diese Lehre da, mündlich weitergegeben wie am Anfang, auch wenn sich niemand entschloss, darüber zu schreiben.

Joseph Ratzinger, Professor für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Philosophisch-theologischen Hochschule Freising, am 1. März 1959 in Freising.

Ein weiteres, von Ratzinger wiederholt vorgebrachtes Argument gegen den materialen Traditionsbegriff lautet, dass die Bejahung der Existenz geoffenbarter Inhalte in der Tradition neben den Inhalten der Schrift einen Rückfall in den Gnostizismus bedeuten würde. Das liegt daran, dass die Gnostiker glaubten, sie besäßen zusätzliches Wissen, das über das hinausgeht, was alle Christen in der Heiligen Schrift lesen können. Ehrlich gesagt, selbst dieses Argument ist nicht stichhaltig. In der Tat glaubten die Gnostiker, sie besäßen Lehren, die nicht nur außerbiblisch, sondern antibiblisch waren. Die gnostische Sichtweise stand in umfassendem Widerspruch zur biblischen Sichtweise, wie die Väter, die sich gegen diese Häresie wandten, deutlich zeigten. [19] Außerdem waren solche außer- und antibiblischen Inhalte esoterischer Natur und nur Eingeweihten bekannt. Es ist klar, dass, wenn das Konzept des Lehrinhalts der Tradition mit dieser Ansicht übereinstimmen würde, diejenigen Gnostiker wären, die die Existenz einer materiellen Tradition neben der Schrift bejahen. Aber es ist nicht wahr, dass jeder, der die Existenz mündlich überlieferter Wahrheiten zusätzlich zu denen der Bibel bejaht, automatisch ein Gnostiker wäre.

Es muss jedoch eingeräumt werden, dass Ratzinger sich der Idee einer Tradition nicht völlig verschließt, die zwar in erster Linie als actio divina, aber auch – wenn auch in sehr untergeordneter Weise – als objektive Tradition betrachtet wird.

b)

Bei dieser Herangehensweise an das Thema Tradition muss auch die klare Unterscheidung zwischen Tradition und Lehramt verbessert werden, eine Klärung, die in Ratzingers Denken etwas in der Schwebe bleibt, obwohl DV 10 in dieser Hinsicht aufschlussreich ist. Der Punkt, an dem Ratzinger am ehesten eine solche Klarstellung vorschlägt, ist vielleicht ein Text aus dem Jahr 1986, in dem er schreibt: „Dann muss die Kirche selbst eine Stimme haben; sie muss imstande sein, sich als Kirche zu äußern und falschen Glauben vom rechten Glauben zu unterscheiden. Das bedeutet, dass Glaube und Theologie nicht dasselbe sind, dass sie ihre je eigene Stimme haben, dass aber die Stimme der Theologie von der des Glaubens abhängig und auf sie bezogen ist: Sie ist Auslegung und muss Auslegung bleiben. [...] Glaube und Theologie sind so verschieden wie Text und Auslegung.“ [20]

Es muss festgestellt werden, dass die Stärke der Theologie der Offenbarung, die Joseph Ratzinger in seinen jungen Jahren entwickelt hat, darin besteht, dass er die Kirchlichkeit der Tradition und die Bedeutung des Glaubens für die Theologie hervorhebt.

6

Ein wirklich entscheidender Beitrag unter den vielen, die Joseph Ratzinger geleistet hat, sind seine Überlegungen zur biblischen Hermeneutik. Besonders wertvoll ist sein klares Bekenntnis zu der Tatsache, dass die Schrift nur im Licht des Symbolums verstanden werden kann. Dies steht in voller Übereinstimmung mit der Art und Weise, wie die Väter und die ganze Tradition die Bibel in der Kirche immer gelesen haben. [21]

Die Schrift auf kirchliche Weise zu lesen bedeutet zunächst, sie mit dem sensus fidei der Gemeinschaft, die der Leib Christi ist, zu lesen. Eine angemessene Hermeneutik – so betonte Erzbischof Ratzinger in seinen Katechesen zur Schöpfung in München – ist nicht eine, die sich den Ideologien des Augenblicks beugt, sondern eine, die im Glauben der Kirche bleibt. Ein Christentum, das das Wort Gottes interpretiert, indem es modischen Ideen den Vorrang gibt, ist eine Religion, die nach Schlupflöchern sucht, nicht eine, die Erklärungen gibt. Dies wäre dem Fehler derjenigen geschuldet, die die Bedeutung des „Heute“ für den Glauben missverstehen. Dass die Heilige Schrift nicht als „totes Buch der Geschichte“ zu lesen ist, hat Ratzinger gesagt und in jeder Hinsicht wiederholt, ebenso wie er gesagt und wiederholt hat, dass die Offenbarung auch heute noch in den Herzen der Gläubigen geschieht. Dies bedeutet jedoch noch lange nicht, dass sich die Auslegung der Heiligen Schrift den aktuellen Denkmoden unterwerfen muss. Das „Heute“, von dem hier die Rede ist, ist das „Heute“ des Glaubens, das hodie, dem man in den liturgischen Texten begegnet: [22] es ist die Gegenwart Christi, der immer der Gleiche bleibt, „gestern, heute und in Ewigkeit“ (Hebr. 13,8). In diesem hodie des Glaubens begegnet der Gläubige dem lebendigen Christus und freundet sich mit ihm an, oder besser gesagt, er empfängt von ihm Freundschaft. Eingepfropft in diese Beziehung kann und muss der Christ die Schrift der Vergangenheit verstehen, die so auch immer lebendig, jung und aktuell ist und kein „Aggiornamento“ braucht, denn die ständige Aktualisierung der Schrift geschieht nicht als „Neuschreibung“, sondern Christus und der lebendige Glaube bewirken diese durch den Heiligen Geist, der in unseren Herzen wohnt.

Neben dem möglichen Fehler, die Heilige Schrift nach einem falschen Verständnis von „heute“ zu lesen (oder besser gesagt zu manipulieren), gibt es auch den möglichen Fehler – über den viele gestolpert sind –, die Heilige Schrift nur nach „gestern“ zu lesen. Damit sind wir bei Ratzingers Kritik an der modernen Exegese angekommen, die den Anspruch erhebt, die biblischen Texte nicht mehr vorwärts, sondern nach rückwärts zu lesen, d. h. nicht mehr im Lichte Christi, sondern nur noch im Lichte ihres wahren oder vermuteten historischen Ursprungs. Wir stellen fest, dass dieser Irrtum auf hohem akademischen Niveau, in wissenschaftlichen Veröffentlichungen der Exegese, aber auch auf den alltäglicheren Ebenen der Verkündigung und Katechese oder der kirchlichen Leitung begangen werden kann. Dies geschieht, wenn behauptet wird, die biblischen Lehren seien alt, seien überholt, weil sie in der Vergangenheit geschrieben wurden. Wenn derartige Aussagen gemacht werden, wird zugleich eine Auswahl zwischen alten biblischen Aussagen und solchen, die aktuell sind und damit in Kraft bleiben, getroffen. Aber wer entscheidet, welche biblischen Texte veraltet und welche aktuell sind? Nach welchen Kriterien – und mit welcher Begründung – wird diese Auswahl getroffen, wird dieser Kanon aus dem Kanon herausgeschnitten?

 

Papst Benedikt XVI spricht in ein Mikrofon, hat ein Blatt in der Hand und macht eine betonende Geste mit seiner Hand

Zusätzlich zu den möglichen Interpretationsfehlern aufgrund von Missverständnissen darüber, was „Gegenwart“ oder „Vergangenheit“ bedeutet, gibt es noch die Möglichkeit, in Irrtum zu verfallen, wenn man die Bedeutung der „Zukunft“ des Glaubens falsch interpretiert. Wenn dies der Fall ist, behauptet man, eine solche Zukunftsperspektive zu besitzen, wobei wir selbst bestimmen müssen, in welche Richtung wir gehen, welche Werte wir heute vermitteln wollen, welche pastoralen Ziele wir verwirklichen wollen, welche Lehre wir vertreten und welche wir lieber verwerfen wollen. Kurz gesagt, das Problem von Giambattista Vico des verum quia factum, auf das Ratzinger in der Einführung in das Christentum hingewiesen hat, kehrt zurück. [23] Diese Ausrichtung auf die Zukunft deckt sich jedoch nicht mit der eschatologischen Ausrichtung auf den auferstandenen und wiederkommenden Christus. Es ist im Gegenteil etwas, das wir tun und gleichzeitig so tun, als käme es aus dem Wort Gottes, das mit einem prophetischen Blick in die Zukunft „interpretiert“ wird. Hier ist nicht von der Zukunft Gottes die Rede, sondern von einer menschlichen Nachäffung.

Im Lichte der bonaventurischen Studien ist Ratzinger zur Erkenntnis gelangt, dass die Begriffe inspiratio und innere revelatio nicht nur für die Hagiographen gelten, sondern auch für die Leser der Heiligen Schrift, die beständig göttliche Hilfe benötigen, um über den Buchstaben des Textes hinaus lesen zu können. In diesem Sinne kann man ohne ein Leben des Gebets und ein Leben der Gnade den Willen Gottes, der im biblischen Text zum Ausdruck kommt, nicht wirklich verstehen. So kehrt das Balthasarische, aber auch das Ratzingerische Thema der untrennbaren Beziehung zwischen Theologie und Heiligkeit wieder, hier in seiner Verwendung als hermeneutischer Schlüssel.

Es gibt jedoch einen kontinuierlichen hermeneutischen Zirkel zwischen dem materiellen Text und der geistlichen Lektüre. Wenn, wie erwähnt, der materielle Text allein nicht ausreicht, gilt auch das Gegenteil: dass die im Glauben vorgenommene Auslegung im Hinblick auf den Text ausgeübt wird. In Offenbarung und Tradition schreibt Ratzinger, dass die Unterordnung der Schrift unter die fides (das Symbolum) die wesentliche Form des Begriffs der Tradition ist. Die Überlieferung ist also ihrem Wesen nach immer Auslegung; sie existiert nicht unabhängig von der Schrift, sondern ist vielmehr die Explikation, die Auslegung „nach der Schrift.“ Dieser Gedanke ist von großer Kraft. Sie ist eine wesentliche Hilfe bei der Entwicklung einer Theorie der Bibelexegese, die ihrem Untersuchungsgegenstand gegenüber angemessen ist.

Trotz dieser aufrichtigen Würdigung, deren Wert bestehen bleibt, muss auch hier festgestellt werden, dass unklar ist, worin genau die Unterscheidung zwischen Tradition und Exegese sowie zwischen Tradition und Theologie besteht. Da Exegese und Theologie ebenso „Auslegung“ der Schrift sind wie die Tradition, wo liegt der Unterschied zwischen diesen Auslegungen? Oder sind Exegese und Theologie auch ein Ausdruck der Tradition? Und wenn dies der Fall ist, in welchem Sinne und in welchem Umfang sind sie es? Es scheint, dass weitere Überlegungen erforderlich sind, um diese Aspekte zu vertiefen.

7

Damit kommen wir nun zu einer direkteren Auseinandersetzung mit der lehrmäßigen Entwicklung. Es scheint angemessen, unsere Überlegungen zu diesem Thema mit der Frage zu beginnen, was ein „Dogma“ ist. Sucht man in Ratzingers Texten nach einer Definition des Dogmas, so findet man am ehesten seine Aussage, das Dogma sei die „kirchliche Form der Hermeneutik der Heiligen Schrift,“ wobei mit Hermeneutik oder Auslegung „in der die vieldeutige Bildersprache der Schrift in die Eindeutigkeit des Begriffs umgesetzt wird, der den bleibenden sachlichen Kern des dort Gemeinten ans Licht bringt.“ [24]

Diese Definition lässt sich mit der klassischeren Definition des Katechismus der Katholischen Kirche in Einklang bringen, der natürlich nicht Ratzingers theologischer Text ist, aber unter seiner Leitung verfasst wurde. Nr. 88 des Katechismus definiert Dogmen als Wahrheiten, „die in der göttlichen Offenbarung enthalten sind oder auch wenn es endgültige Wahrheiten vorlegt, die mit diesen in einem notwendigen Zusammenhang stehen.“ [25] Ohne hier auf diese Definitionen näher einzugehen, wollen wir ihren wesentlichen Inhalt aufgreifen: Ein Dogma ist eine in der Offenbarung enthaltene Wahrheit oder eine Wahrheit, die mit den in der Offenbarung enthaltenen Wahrheiten durch eine intrinsische Beziehung verbunden ist.[26] Während der Katechismus den göttlichen Ursprung der Lehre betont (sie kommt von Gott; sie findet sich in der göttlichen Offenbarung), betont Ratzinger als Theologe ihre menschliche Formulierung (in die allerdings der Heilige Geist eingreift): Die Lehre ist die kirchlich-begriffliche Form der Hermeneutik der Schrift. Auch hier könnte man um mehr Präzision bitten: Was unterscheidet diese Hermeneutik der Schrift von anderen Hermeneutiken, die ebenfalls kirchlich sind, wie Exegese und Theologie? Diese Frage lässt sich beantworten, wenn man etwas mehr über die Entwicklung der Lehre nachdenkt.

Heiliger Bonaventura (Ausschnitt), Gemälde von Wilhelm Ziegler und Thomas Schmid, um 1530

Was hat Ratzinger zu diesem Thema gesagt? Zunächst stellt er fest, dass Bonaventura wie Augustinus keine substanzielle, sondern nur eine akzidentelle Entwicklung der Lehre in der Geschichte sieht. Dennoch ist der bayerische Theologe der Meinung, dass es im Denken Bonaventuras Elemente gibt, die es ihm erlauben, eine nicht-statische Sicht der Lehre zuzulassen, und glaubt, dass man eine Entfaltung des Glaubens in der Geschichte der Kirche sehen muss. Er rechtfertigt diese Vision mit der Einheit der Geschichte, nicht nur zwischen dem Alten und dem Neuen Testament, sondern auch zwischen dem Neuen Testament und der Zeit der Kirche. Er sieht keinen klaren Trennungsstrich zwischen dem Ende der neutestamentlichen Redaktion und der Zeit der Kirche. Innerhalb dieser Vision bleibt eines klar: So wie es beim Übergang vom Alten zum Neuen Testament keine radikale Veränderung gibt, sondern nur eine Explikation im Sinne der Erfüllung des Glaubens (so dass das Neue mehr ist als das Alte, aber nicht gegen das Alte, noch ihm widersprechend), so ist es auch im Verhältnis zwischen dem Neuen Testament und der in der Zeit der Kirche explizierten Lehre. Die Glaubensentwicklung der Kirche im Laufe der Jahrhunderte wird in gewissem Sinne mehr sein als das Neue Testament, aber steht nicht dagegen. Für Bonaventura endete die apparitio (öffentliche Offenbarung) mit Christus und mündete in die festgelegte und unveränderliche Lehre[27] Die revelatio setzt sich in dem oben genannten Sinne fort, nicht in dem Sinne, dass sie im Laufe der Zeit eine Veränderung oder gar eine Aufhebung dessen bewirkt, was bereits in der Vergangenheit durch die apparitio überliefert wurde. [28]

Auf der Grundlage seines Studiums der späteren Werke Bonaventuras wird Ratzingers Position noch präziser: Objektiv gesehen ist die Heilige Schrift sicherlich abgeschlossen; ihre Bedeutung ist jedoch „in die Geschichte hindurch in einer ständigen Entfaltung begriffen, die noch nicht abgeschlossen ist. [...] Aus der Schrift wachsen also immer neue Erkenntnisse hervor, in ihr geschieht gleichsam noch etwas; und dies Geschehen, diese Geschichte, geht fort, solange es überhaupt Geschichte gibt.“ [29] Man stößt hier auf ein anderes Konzept als das oben erwähnte der Tradition als Auslegung der Schrift. In diesen reifen Werken fügt Bonaventura hinzu, dass es nicht nur die Tradition ist, die das Potential der Schrift im Laufe der Geschichte zum Blühen bringt oder sie zumindest interpretiert, sondern dass es die Schrift selbst ist, die dank der in ihr enthaltenen multiformes theoriae zum Blühen kommt. So sehr der pro-joachimitische Bonaventura des Kommentars In Hexaëmeron die Idee eines Wachstums der Schrift selbst akzeptiert, [30] so wenig wird dieses Wachstum als Verleugnung oder Überwindung Christi und des Neuen Testaments dargestellt. Modern ausgedrückt, handelt es sich um eine organische Entwicklung einer Realität, die mit sich selbst identisch bleibt, und nicht um eine substanzielle Evolution, die eine Sache in eine andere verwandelt.

Es sollte hinzugefügt werden, dass auch das Lehramt der Kirche Grenzen hat. Es stimmt zwar, dass die Kirche uns die Glaubensregel gibt, die eine regulierende Funktion im Hinblick auf die Schrift ausübt – denn die Schrift muss nach dem Symbolum der Kirche gelesen werden –, aber andererseits gibt es auch die Grenze der littera Scripturae, des Wortsinns der Schrift. Es geht darum, was man von der Heiligen Schrift ohne Mehrdeutigkeit wissen kann, sei es durch wissenschaftliche Exegese oder durch die einfache Lektüre eines jeden Gläubigen. Dieser unmittelbare, klare und allgemein verständliche Sinn der Heiligen Schrift stellt wiederum eine Grenze für das Lehramt dar, in dem Sinn, dass das, was die Bibel sagt, nicht durch Verlautbarungen der Kirche widerlegt werden kann. [31] Die Bibel bleibt also das Hauptkriterium, um jede lehramtliche Willkür zu vermeiden; auf diese Weise wird das sarx (Fleisch) der Heiligen Schrift, zum sarx des Logos selbst, gegen jede gnostische Tendenz.

8

Was die Entwicklung der Lehre betrifft, so versucht Ratzinger, die Sackgassen der gegensätzlichen Visionen zu vermeiden, die man als Archäologismus einerseits und dogmatischen Progressivismus andererseits bezeichnen könnte. Wenn es stimmt, dass man die Geschichte des Dogmas nicht (wie die Protestanten) mit einem unvermeidlichen Verfall identifizieren kann, so kann sie auch nicht von der Idee des Fortschritts absorbiert werden, als ob die Geschichte des Dogmas sich in einem ständigen vollkommenerem Aufstieg befände. Die Geschichte des Dogmas hat einen ambivalenten Aspekt: Sie kann Fortschritt und Entwicklung in der Assimilation oder die Bedrohung durch Verlust und Entfremdung bedeuten. Aus diesem Grund ist unser Autor davon überzeugt, dass es besser ist, in der deutschen Sprache von „Geschichte“ statt von „Entwicklung“ des Dogmas zu sprechen. [32]

Die Möglichkeit einer Entwicklung (ein ganz anderes Konzept als Evolution) der Lehre, ist für Ratzinger in zwei Größenordnungen begründet: Zum einen unterliegt die Lehre den Gesetzen der Geschichte, zum anderen unterliegt sie den Gesetzen der Sprache. [33] Beide Bedingungen sind unvermeidlich und gehören zu einer gewissen – sozusagen – „Schwäche“ oder Vorläufigkeit der Lehrverkündigungen der Kirche. Andererseits sind die Geschichtlichkeit der Lehre und deren Objektivierung in verbalen Sätzen auch ihre Stärke, denn sie machen die Lehre in der Kontinuität der Jahrhunderte von Generation zu Generation kommunizierbar. Unter den Funktionen der Sprache, so Ratzinger, ist eine der wichtigsten gerade diejenige, Kommunikation zu ermöglichen, die in der Lage ist, verschiedene Generationen durch das Senden und Empfangen von sprachlichen Botschaften zu vereinen. Dies bedeutet auch, dass die Botschaft von den Zuhörern verschiedener Epochen immer wieder neu angeeignet werden muss; dennoch bleibt die Vermittlung derselben Wahrheit gerade durch die Lehre (doctrina) möglich.

9

Ratzinger erkennt ein zweifaches Prinzip für die Auslegung von Dogmen: a) Als Auslegung der Schrift, ist das Dogma immer wieder auf den Gegenstand seiner Auslegung zurückzuführen; b) das Dogma ist in der Einheit seiner eigenen Geschichte zu verstehen. [34] Es muss daran erinnert werden, dass eine der wichtigsten – wenn auch nicht die einzige – Dimensionen der Dogmengeschichte das „einzige Subjekt Kirche“ ist. [35] Das Dogma ist also auch mit der Existenz verbunden, mit der Entscheidung für ein Leben für Christus innerhalb der sakramentalen Gemeinschaft der Kirche. Nun, auch das muss noch etwas näher erläutert werden, indem man Ratzingers Ausführungen zum Thema Erfahrung aufgreift.

In unserer Zeit kommt es häufig vor, dass die Erfahrung als Hauptquelle für die Lehre und als höchsten Wert angesehen wird, sowohl in der Liturgie als auch im geistlichen Leben. Es ist jedoch wichtig zu verstehen, um welche Art von Erfahrung es sich handelt. 1982 erinnerte Ratzinger daran, dass der heilige Thomas von Aquin trotz seiner aristotelischen Vorlieben, das Prinzip, das die platonisch-augustinische Tradition in der Formulierung Deus semper maiorzum Ausdruck bringt, als gültig anerkannte. Die Schöpfung und die Geschichte – und unsere Erfahrung damit – dienen als Mittel für die Offenbarung, aber Gott bleibt immer größer als diese Mittel. Deshalb hat nicht nur die dogmatische Sprache, sondern auch (und erst recht) die Gotteserfahrung Grenzen. Die wahre Glaubenserfahrung ist eine, die diese Wahrheit ernst nimmt und deshalb bereit ist, über sich selbst als Erfahrung hinauszugehen, hin zur Wahrheit Gottes, die alle Erfahrung übersteigt. [36]

Auf Erfahrung kann nicht verzichtet werden, weder im Leben noch im Glauben, aber Erfahrung allein reicht nicht aus und kann sogar irreführend sein. Daraus ergibt sich auch ein Kriterium für die Lehrentwicklung: Die Wahrheit des Deus semper maior lässt sich nicht aus den Wünschen derer ableiten, die das Leben und den Glauben erfahren. Die Lehre entsteht nicht durch das Hören auf Erfahrungen, sondern die Erfahrungen müssen immer im Hören auf das Wort bleiben. Um es mit aller Deutlichkeit zu sagen: Meinungsumfragen sind auf der Ebene der Religionssoziologie sehr nützlich und können auch auf der Ebene der Pastoral nützlich sein. Es wäre jedoch völlig falsch, die Ergebnisse solcher Umfragen als Kriterium für die Entwicklung der Lehre zu verwenden.

Es geht nicht darum, das Glaubensbekenntnis zu ändern, sondern es dem Menschen von heute neu zu präsentieren, damit dessen Worte für ihn verständlich bleiben. Ratzinger bleibt den Grundsätzen seiner theologischen Vision treu, wenn er schreibt, dass für eine wahre Lehrentwicklung gilt, dass sie „sich aber doch vor dem gegebenen Wort verantwortet und wieder zu ihm hinführt anstatt es zu verlassen.“ [37] Nirgendwo spricht Ratzinger von einer aktualisierenden Auslegung der Schrift, die dem widerspricht, was sie sagt. [38]

Eine lehrmäßige Evolution hat Ratzinger von vornherein ausgeschlossen. In einem kurzen Aufsatz, [39] in dem er das Verhältnis von Offenbarung, Schrift und Überlieferung bei Bonaventura ausgehend von der Frage des Filioqueanalysiert, stellt der Professor aus Bayern fest, dass die Dogmatisierung von Lehrinhalten – wie die Einfügung der Klausel über das Hervorgehen des Heiligen Geistes auch aus dem Sohn in das Glaubensbekenntnis – für den seraphischen Vater aus drei Gründen erfolgt ist: ex fidei veritate (aus der Wahrheit des Glaubens selbst), ex periculi necessitate (als Antwort auf Häresie), ex ecclesiae auctoritate(kraft der Autorität der Kirche). Auch hier ist das Kriterium für die Entwicklung der Lehre nicht die Notwendigkeit der Anpassung an die Zeit oder die herrschende Mentalität. In der Tat erinnert Bonaventura daran, dass wir Katholiken bei der Entwicklung des Dogmas noncorrumpimussed perficimus. Die Entwicklung der Lehre läuft nicht auf eine Verfälschung der Schrift hinaus (das wäre eine evolutionäre Mutation und keine organische Entwicklung), sondern auf eine Verfeinerung der Wirklichkeit selbst, die sich daher als solche nicht ändert und nicht ändern kann. „Dogmenentwicklung, in dem Sinn, dass sie in wachsendem Maß auf die perfectio, auf die Vollkommenheit als inneren Wert zustrebt. Immerhin bliebt hier die Kontinuität stark betont.“ [40]

Joseph Kardinal Ratzinger während der Fronleichnamsmesse auf dem Marienplatz in München.

Bonaventura räumt auch einen gewissen Charakter relativer Neuheit ein, wenn eine lehrmäßige Entwicklung stattfindet. Im konkreten Fall des Filioque war es sicherlich ein Novum, eine solche Klausel in das Symbolum des Glaubens aufzunehmen. Es handelte sich eindeutig um eine Neuerung, nicht im Sinne einer lehrmäßigen Korruption, sondern einer konsequenten Erweiterung. Der Seraphicus argumentiert, dass die Befugnis, solche Neuerungen einzuführen, von Christus an seine Kirche übertragen wurde. Dies ist das Kriterium des ex ecclesiae auctoritate, das Bonaventura im Wesentlichen mit dem munus docendi des Nachfolgers Petri identifiziert. „Hier wird die apostolische Vollgewalt des Papstes zum Prinzip des Fortschritts in der Kirche erhoben; sie ist den vergangenen Konzilien derart übergeordnet, dass sie ihnen zwar in ihrer positiven Aussage nicht widersprechen darf, wohl aber über sie hinaus, ja, notfalls auch gegen sie Neues zu sagen ermächtigt ist.“ [41] Diese letzte Behauptung muss vertieft werden, um genau klären zu können, was Ratzinger meint, wenn er schreibt, dass der Papst nicht nur über, sondern in bestimmten Fällen sogar gegen die Konzilien der Vergangenheit vorgehen kann. Damit meint er, dass die päpstliche Autorität so beschaffen ist, dass der Papst – wenn es sich nicht um festgelegte Lehren handelt – die Konzilien der Vergangenheit nicht nur ergänzen, sondern auch korrigieren kann. Es geht also nicht darum, gegen die unfehlbar gelehrte Lehre zu verstoßen, denn das ist auch dem Papst verwehrt, der die Brüder im Glauben „stärken“ (vgl. Lk 22,32) und nicht ihren Glauben verfälschen soll. Aber in den Fällen, in denen die Konzilien keine endgültige Entscheidung getroffen haben, kann der Papst „dagegen“ vorgehen. Ein Beispiel dafür ist die Lehre von Pius XII. zum Thema des Weihesakraments, der sich „gegen“ die Aussagen des Konzils von Florenz wandte, die allerdings nicht definiert waren. [42]

All dies scheint jedenfalls der Rolle des Papstes und ganz allgemein der Autorität des Lehramtes bei der Entwicklung der Lehre große Aufmerksamkeit zu schenken. Auf dieses Problem hat kürzlich der Münsteraner Dogmatiker Michael Seewald hingewiesen. Letzterer unterstreicht die Tatsache, dass das von Ratzinger vorgeschlagene „offene“ Konzept der Offenbarung mit der damit verbundenen Vision der Lehrentwicklung zwar einerseits „Diskurse in bis dato ungeahnter Freiheit eröffnen“, andererseits aber, falls es „sich mit den Instrumenten einer diskursempfindlichen Autorität verbindet, das offene Gespräch hemmen“ kann. Denn wenn man sich nicht mehr auf die Schrift und die Tradition als „Quellen“ berufen kann, in denen die Offenbarung als Offenbarung bezeugt wird, um das Geoffenbarte vom Nicht-Offenbarten zu unterscheiden, „wie lässt sich dann eine allgemein einsichtige Bestimmung dessen, was nun tatsächlich und daher verbindlich geoffenbart ist oder mit der Offenbarung zusammenhängt, gewinnen?“ [43]

Seewald stellt abschließend fest: „Ratzingers weiter Offenbarungsbegriff, der einerseits einen Raum der Flexibilität und der Reform öffnen könnte, ist gleichzeitig also auch anfällig für Instrumentalisierungen, in der die Macht der Autorität die Kraft der Argumente zu ersetzen droht, weil den Argumenten gleichsam das positive Material, auf das sie sich stützen und auf dessen Grundlage sie behaupten könnten, dass etwas geoffenbart oder nicht geoffenbart sei, entzogen wird. Wenn man das konsequent zu Ende dächte, wäre die Theologie als Theologie am Ende.“ [44]

Lassen Sie uns am Rande dieser Aussage zwei Dinge bemerken: Erstens scheint das, was Seewald als hypothetisches Szenario darstellt, leider eine reale Situation zu sein, in der wir uns oft schon bewegen. Zweitens stellen wir fest, dass die Theologie Ratzingers in diesem Punkt Gegenstand einer kleinen historischen Nemesis sein könnte. Unter anderem entwickelte er seine Offenbarungstheologie vor dem Hintergrund des Dogmas von 1950, gerade um einen weiten Offenbarungsbegriff aufrechtzuerhalten, bei dem klar ist, dass die ganze Kirche und nicht nur die Hierarchen Hüter der Lehre sind, um einen willkürlichen und unbiblisch begründeten Gebrauch des munus docendi zu verhindern. Paradoxerweise könnte dieses theologische Modell missverstanden oder manipuliert werden, um kirchliche Strategien umzusetzen, die im Gegensatz zu denen stehen, die sein Autor vorausgesehen und gewünscht hat.

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Eine große Stärke von Ratzingers Theologie der Offenbarung ist ihr klarer Christozentrismus, der ebenfalls bonaventurischen Ursprungs ist. Konkret geht es um die Verbindung zwischen dem „heute“ mit dem, was Gott in Christus gesagt und getan hat. Da Christus immer lebendig ist, ist auch das Werk seiner Offenbarung, das in jedem Zeitalter fortbesteht, lebendig. Doch wie Ratzinger in seinen Überlegungen zur Hermeneutik und in seiner Trilogie über Jesus von Nazareth treffend darlegt, [45] handelt es sich nicht um einen rekonstruierten Jesus, sondern um den „Jesus der Evangelien.“ [46] Auch hier erweist sich die Schrift als große Barriere gegen eine „verfälschende Tradition,“ die das Wort Gottes vergisst und manchmal sogar manipuliert.

Die Treue zu dem in der Vergangenheit überlieferten Wort bedeutet jedoch weder Archäologismus noch Traditionalismus. Für Ratzinger ist die Tradition das gegenwärtige Leben des Wortes, das in der Vergangenheit gesprochen wurde. Die Verbindung zwischen Tradition und apostolischer Sukzession muss hier hervorgehoben werden. Ratzinger interpretiert Überlieferung „nicht so sehr als ein materiales denn als ein formales Prinzip; sie bedeutet im Letzten eine hermeneutische Grundentscheidung, derart, dass der Glaube nicht anders als in der geschichtlichen Kontinuität der Glaubenden anwesend ist, in ihr, nicht gegen sie gefunden werden muss.“ [47]

Es besteht keine Notwendigkeit, eine formale Tradition gegen eine materielle Tradition, eine Handlung gegen einen Inhalt abzugrenzen. Wir gehen davon aus, dass die Tradition vor allem eine Hermeneutik der Schrift ist, die in der Geschichte des Volkes Gottes immer lebendig ist; und gleichzeitig bekräftigen wir, dass diese Hermeneutik, die immer lebendig und niemals archäologisch ist, zwangsläufig auch materielle Inhalte hervorbringt und enthält, von denen einige von Anfang an vorhanden sind (die von den Aposteln mündlich überlieferten Traditionen: vgl. Joh 21,24-25), während andere von Anfang an durch eine natürliche organische Entwicklung im Laufe der Jahrhunderte entstanden sind.

Der Weg, um nicht in die Falle einer „deformierenden Tradition“ zu tappen, besteht darin, auf die Lehrentwicklung dasselbe Kriterium anzuwenden, das sich bei der Untersuchung des Themas Tradition, Theologie und Lehramt herauskristallisiert hat: Es gibt eine littera Scripturae, die nicht überschritten werden kann. Auch hier finden wir im Grunde ein et-et, denn es geht nicht um reinen Biblizismus, sondern um eine Akzeptanz der Bibel aus der Perspektive jener gesunden natürlichen Vernunft (Philosophie und gesunder Menschenverstand), die das Prinzip des Nicht-Widerspruchs als Grundlage jeglichen menschlichen Denkens und Redens anerkennt, das auch nur im Geringsten vernünftig ist.

In einer dynamischen Vision der Lehrentwicklung, wie sie uns Ratzinger dargelegt hat, muss man in jeder Zeit eine Offenheit für das pflegen, „was der Geist den Kirchen sagt“ (Offb 2,7). Das ist es, was Ratzingers Professoren, die das Dogma der Himmelfahrt Mariens vor seiner Definition ablehnten, [48] tun mussten, und das ist es, was jeder Katholik tun muss, der an den Beistand des Heiligen Geistes in der Kirche glaubt. Denn der Heilige Geist hat die Fähigkeit, die Kirche zur „vollen Wahrheit“ zu führen. Er versteht es, die Gläubigen an das Wort Christi „zu erinnern“ (vgl. Joh 16,4.13). Diese Offenheit für die Wahrheit kann, gerade weil sie offen ist, Neuerungen und Überraschungen vorbehalten, aber sie kann keine dialektischen Gegensätze dulden. [49] Die Wahrheit ist Christus und Christus bleibt immer derselbe, gestern, heute und in Ewigkeit (vgl. Joh 14,6; Hebr 13,8). Der göttliche Logos ist der menschlichen Logik zweifellos überlegen (vgl. Jes 55,9); er ist ihr überlegen, aber nicht entgegengesetzt.

Papst Benedikt XVI am Schreibtisch, das Bild ist sehr kontrastreich, man sieht ein Kreuz auf dem Schreibtisch und Licht dringt nur durch das Fenster im Hintergrund herein.
Papst Benedikt XVI am Schreibtisch, das Bild ist sehr kontrastreich, man sieht ein Kreuz auf dem Schreibtisch und Licht dringt nur durch das Fenster im Hintergrund herein.

Die Tagung der beiden Ratzinger Schülerkreise, die vom 22. - 25. September 2022 in Rom stattfand, können Sie hier im Video ansehen. Klicken Sie dazu bitte auf das Bild.

Die gesunde Offenheit für die „Neuheit“ Gottes im Prozess der Tradition (man denke an die Einführung des homoousios oder der transubstantiatio) versetzt uns in eine anti-archäologische innere Verfassung. Diese Offenheit nährt den Wunsch, sich immer weiter in das Glaubensgut zu vertiefen, um seine verborgenen oder bisher unzureichend beachteten Kostbarkeiten in ihrer Schönheit zu entdecken und zu entfalten. Von Zeit zu Zeit in der Geschichte geht die Kirche sogar so weit, dass sie feierliche Handlungen vornimmt, um diese Entdeckungen und Entwicklungen unumstößlich zu bestätigen. Die Predigt der Hirten der Kirche, die Vertiefung durch das Gebet aller Gläubigen sowie das Studium der Theologen arbeiten darauf hin: die wahre dogmatische Entwicklung, das höchste oder zumindest greifbarste Beispiel für die wahre Tradition. [50]

Vor diesem Hintergrund müssen wir uns auch fragen: Viele sprechen von Lehrentwicklung, aber wer arbeitet daran? Wer studiert ein Thema in Vorbereitung auf eine mögliche zukünftige dogmatische Äußerung? Es scheint im Gegenteil so zu sein, dass jedes Mal, wenn die Möglichkeit der Definition eines neuen Dogmas befürchtet wird, wie hypothetisch auch immer, ein allgemeiner Aufschrei zu hören ist, meist mit der Begründung, dass „eine solche Lehre nicht biblisch sei“ oder dass sie „weitere Hindernisse im ökumenischen Dialog schaffen wird.“

Derartige Haltungen stimmen nicht nur nicht mit Ratzingers Auffassung von Schrift und Tradition überein, sondern scheinen sogar dem Heiligen Geist das Recht absprechen zu wollen, sein Werk zu tun, nämlich die Kirche zur Fülle der Wahrheit zu führen. Hier sollten wir das Kriterium anwenden, auf das sich der Apostel Petrus vor der Familie des Kornelius berief (vgl. Apg 11,17) und uns fragen: Wer sind wir, dass wir Gott Hindernisse in den Weg legen? Wir können nicht diejenigen sein, die Gott Grenzen setzen, auch nicht aus guten Gründen, wie es die ökumenische Sache ist. Die einzige Grenze für Gott ist Gott selbst. Gerade deshalb können wir das Wort Gottes nicht manipulieren, um eine „zeitgemäße“ Lehre zu schaffen, die mit der Zeit geht. Außer jedoch im Fall der unüberwindlichen Grenze des „Widerspruchs, der nicht erlaubt,“ [51] ist es notwendig, offen zu bleiben für die wahren Neuerungen Gottes, für jene Überraschungen, die in der lehrmäßigen Entwicklung der wahren Tradition nicht verraten, sondern unaufhörlich das eine und einzigartige Wort wiederholen, das rettet, Jesus Christus, das fleischgewordene Wort, das allen Menschen seine Freundschaft anbietet.

 

Mauro Gagliardi, Priester der Erzdiözese Salerno, ist ordentlicher Professor am Päpstlichen Athenäum Regina Apostolorum, zudem lehrt er an der Universität des Heiligen Thomas von Aquin in Rom. Er ist Autor zahlreicher Bücher, darunter eine einbändige Dogmatik mit dem Titel „Die Wahrheit ist synthetisch“.

Portraitbild Mauro Gagliardi, ein junger, braunhaariger Mann in geistlicher Bekleidung.

[1] Joseph Ratzinger, Das Christentum wollte immer mehr sein als nur Tradition, in: JRGS 13/3, 2017, 1280-1294, hier: 1285-1286. Die Metapher des Meteoriten, von dem Proben zur Untersuchung entnommen werden konnten, erinnert an ein ähnliches Bild, das von H. U. von Balthasar vorgeschlagen wurde, «La sede della teologia» [1953], in: Ebd., Verbum Caro. Saggi teologici, Morcelliana, Brescia 1968, I, 172. „Die Schrift ist kein Steinbruch, aus dem die Theologie einzelne Sätze herauslösen kann, die ihr dienen und sich in den Kontext einfügen; sie ist das Zeugnis eines totalen, einheitlichen Vorgangs, der gerade in dieser Totalität Gegenstand der Theologie ist.“

[2]  Am Ende seines Rundgangs über Bonaventura geht Ratzinger auf die Debatte über das Verhältnis oder den Gegensatz zwischen der metaphysischen und der heilsgeschichtlichen Betrachtungsweise ein und gibt seine eigene Antwort: „Der Ansatzpunkt der Theologie ist die konkrete heilsgeschichtliche Tat Jesu Christi; aber auf dem Antlitz Jesu Christi leuchtet für das im Glauben sehend gewordene Auge des Theologen die dahinterstehende metaphysische Wesensgestalt des Gottes auf, der sich in Christo kundgetan hat.“ Joseph Ratzinger, Offenbarungsverständnis und Geschichtstheologie Bonaventuras, in: JRGS 2, 414.

[3] Vgl. Joseph Ratzinger, Bemerkungen zum Schema »De fontibus revelationis«, in: JRGS 7/1, 157-174, hier: 161. Eine weitere Ratzinger-Beschreibung der Geiselmannschen Theorie wird dies weiter verdeutlichen: „Geiselmann selbst hat seine Position in das Stichwort »materiale Vollständigkeit der Schrift« zusammengefasst. Er glaubte, damit die Versöhnung des katholischen Prinzips mit dem protestantischen Sola scriptura gefunden zu haben. Das war ein Irrtum, denn das Sola scriptura ist ein Formalprinzip und darum dann auch material, inhaltlich gültig. Diese Reihenfolge lässt sich nicht umkehren, wie Geiselmann meinte, dessen Argument man vereinfacht etwa so wiedergeben könnte: Faktisch entnehme auch die katholische Glaubenslehre alle ihre Inhalte der Schrift; diese sei also als Materialprinzip vollständig. Wenn es aber so sei, dann laufe dies im Letzten auf dasselbe hinaus, wie wenn man die Bibel auch als Formalprinzip ansehen würde.“ Joseph Ratzinger, Buchstabe und Geist des Zweiten Vatikanums in den Konzilstexten von Kardinal Frings, in: JRGS 7/1, 2012, 616-638, hier: 622. In Anbetracht der Tatsache, dass die von Frings auf dem Konzil vertretenen Positionen eindeutig ratzingerianisch waren, ist diese Schlussfolgerung ebenfalls bemerkenswert: „Dass das Konzil dann dennoch nicht in diese Falle gegangen ist [Geiselmanns Theorie zu akzeptieren], scheint mir doch wohl auch ein Verdienst von Kardinal Frings zu sein.“ Ebd. 623. Ähnlich hatte sich Ratzinger 1967 zu Beginn seines Kommentars zu Dei Verbum geäußert (und einige weitere historische Details zu den konziliaren Diskussionen geliefert). JRGS 7/1 (Anm. 3), 161-165. Immer noch zum selben Thema. Vgl. Joseph Ratzinger, Aus meinem Leben, München 1998, 127-129.

[4] Vgl. P. Rousselot, «Les yeux de la foi», Recherches de science religieuse» 1 (1910) 241-259; 444-475. In seiner Dissertation mit dem Titel L’intellectualisme de saint Thomas, Alcan, Paris 1908, hatte Rousselot in den Schriften des Thomas einen Offenbarungsbegriff gefunden, der dem von Ratzinger aus Bonaventura entwickelten ähnelt. Hinsichtlich der Analyse des Glaubensaktes in der Theologie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist ferner auf die wichtige Dissertation von R. Aubert, Le problème de l’acte de foi. Données traditionnelles et résultats des controverses récentes, Warny, Louvain 1945, zu verweisen, die zehn Jahre vor Ratzingers Habilitationsschrift veröffentlicht wurde (Auberts Buch erlebte bis 1969 vier Neuauflagen).

[5] „Und weil es so ist, gehört zum Begriff »Offenbarung« immer auch das empfangende Subjekt: Wo niemand »Offenbarung« wahrnimmt, da ist eben keine Offenbarung geschehen, denn da ist nichts offen geworden. Ratzinger, Aus meinem Leben, (Anm. 3), 84.

[6] Vgl. JRGS 7/1 (Anm. 3), 142-143. Joseph Ratzinger, Wesen und Auftrag der Theologie. Versuche zu ihrer Ortsbestimmung im Disput der Gegenwart, Einsiedeln 1993, 68.

[7] Die systematischste Studie zur biblischen Hermeneutik ist die umfassende “Erasmus Lecture”, teilweise in Vortragsform vorgelesen in New York, St. Peter‘s Lutheran Church, am 27. Januar 1988. Wir können uns hier nicht mit einer genauen Analyse dieses wichtigen Textes befassen, aber wir haben ihn berücksichtigt. Für den vollständigen Text, vgl. Joseph Ratzinger, «Biblical Interpretation in Crisis: On the Question of the Foundations and Approaches of Exegesis Today», in: R. J. Neuhaus (Hg.), Biblical Interpretation in Crisis. The Ratzinger Conference on Bible and Church, Grand Rapids 1989, 1-23. Die vollständige deutsche Fassung findet sich in: Joseph Ratzinger, Schriftsauslegung im Widerstreit. Zur Frage nach Grundlangen und Weg der Exegese heute, in: JRGS 9/2, 790-819. Schließlich wurde die ebenfalls vollständige italienische Fassung veröffentlicht unter dem Titel: «L’interpretazione biblica in conflitto. Problemi del fondamento ed orientamento dell’esegesi contemporanea», in L. Pacomio (Hg.), L’esegesi cristiana oggi, Piemme, Casale Monferrato 1991, 93-125.

[8] Heute ist dieser Standpunkt weitgehend akzeptiert. In seinem Lehrbuch der Fundamentaltheologie spricht L. Feingold von Schrift und Tradition als zwei «complementary channels [that] flow from one original source»: Faith Comes from What is Heard. An Introduction to Fundamental Theology, Steubenville (OH) 2016, 206. Unabhängig von Feingold habe ich in meiner Dogmatik (die auch ein Kapitel über Fundamentaltheologie enthält) die „Zwei-Kanal“ Terminologie verwendet. Vgl. Mauro Gagliardi, La Verità è sintetica. Teologia dogmatica cattolica, Siena 22018, 149-153.

[9] Joseph Ratzinger, „Begründung der Änderungsvorschläge zu Band I der Schemata »Constitutionum et Decretorum« (3. Oktober 1962)“, in: JRGS 7/1, 142-156, hier: 142.

[10] Der Vorgang der Offenbarung hat also zwei Komponenten: ein äußerlich wahrnehmbares geschichtliches Zeichen, das aber für sich genommen bedeutungslos ist, und eine intime Selbstoffenbarung der Gottheit – die jedenfalls immer mit diesem äußeren Zeichen verbunden ist –, die Offenbarung im wahren und eigentlichen Sinn ist und revelatio, inspiratio, illuminatio genannt wird. Das äußere Element hat die Funktion, den Intellekt zu stimulieren, damit er seine Suche fortsetzen kann. So wird die eigentliche Offenbarung vorbereitet, und diese stimuliert dann die Liebe. Für Bonaventura gilt dies für alle menschlichen Erkenntnisse, bei denen die Aufgabe der Sinne nur darin besteht, den Intellekt zu stimulieren, indem sie ihn zu seiner eigenen Tätigkeit zurückrufen, die über die Sinne hinausgeht. Vgl. JRGS 2 (Anm. 2), 106-107.

[11] Vgl. ebd. 102-104.

[12] „Denn wenn revelatio Kundgabe von Gott her und damit göttliches Tun ist, so ist manifestatio Kundwerdung im Menschen, das menschliche Innesein der göttlichen Kunde.“ Ebd., 102.

[13] Vgl. ebd. 109.

[14] Vgl. ebd. 514.

[15] Joseph Ratzinger, Das Problem der Dogmengeschichte in der Sicht der katholischen Theologie, in: JRGS 9/1, 553-595, hier: 569.

[16] Vgl. JRGS 2 (Anm. 2), 211-214.

[17] Joseph Ratzinger, Zur Konzilsdiskussion über das Verhältnis von Schrift und Überlieferung, in: JRGS 7/1, 473-478, hier: 476.

[18] Joseph Ratzinger, Einleitung und Kommentar zum Prooemium, zu Kapitel I, II und VI der Offenbarungskonstitution »Dei Verbum«, in: JRGS 7/2, 715-791, hier: 768. Am Rande sei bemerkt, dass nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil einige „traditionalistische“ Kritiker der Konzilsdokumente diese als konkretes Beispiel für eine Deformation der Tradition oder zumindest für die Auslassung bestimmter Aspekte, die bereits in den vergangenen Jahrhunderten entwickelt und auf dem letzten Konzil nicht aufgegriffen (wenn auch nicht direkt bestritten) wurden, betrachteten.

[19] In meiner Doktorarbeit habe ich mich eingehend mit der antignostischen Theologie eines der wichtigsten Protagonisten der patristischen Reaktion auf den Gnostizismus, des heiligen Irenäus von Lyon, befasst: Vgl. Mauro Gagliardi, La cristologia adamitica. Tentativo di recupero del suo significato originario, Pontificia Università Gregoriana, Rom 2002, siehe bes. 211-223 («Excursus: Gnosi e gnosticismo») und 331-343 («Il sistema gnostico secondo sant’Ireneo»).

[20] Joseph Ratzinger, Pluralismus als Frage an Kirche und Theologie, in: JRGS 9/1, 211-233, hier: 229.

[21] Erinnern wir uns als Beispiel an den starken Vorwurf des heiligen Leo des Großen, der in Bezug auf den Ketzer Eutychas schreibt: „Welche Kenntnis kann jemand von den heiligen Seiten des Neuen und Alten Testaments haben, der nicht einmal die ersten Elemente des Symbolums zu verstehen weiß?“ Epistula “Lectis dilectionis tuae” (Tomus ad Flavianum), in G. Alberigo – al. (Hg.), Conciliorum Oecumenicorum Decreta, Bologna1991, 77.

[22] Vgl. Mauro Gagliardi, Liturgia fonte di vita. Prospettive teologiche, Verona 2009, 105-114.

[23] Vgl. Joseph Ratzinger, Einführung in das Christentum. Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis, 31-322, hier: 71.

[24] JRGS 9/1 (Anm. 15) 576. Wenige Seiten vorher, in demselben Aufsatz, der dem Problem der Dogmengeschichte gewidmet ist, schreibt der Autor, dass der Begriff des Dogmas in der frühen Kirche nicht als „Lehrsatz“ verstanden wurde, sondern als „in dem die Schrift erschließenden und auslegenden Glauben der Kirche.“ Ebd., 569. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch, dass Ratzinger in dem Aufsatz „Zur Frage nach der Geschichtlichkeit der Dogmen“ einen sechs Seiten langen Abschnitt mit der Überschrift „Was ist Dogma?“ eingefügt hat, in dem er – übrigens völlig beiläufig – nur diese Quasi-Definition anbietet: Dogma ist „die verbindliche Zusage des Glaubens.“ Joseph Ratzinger, Zur Frage nach der Geschichtlichkeit der Dogmen, in: JRGS 9/1, 596-609, hier: 602. Der Rest des Abschnitts entwickelt eine Reflexion über das Symbolum und die historisch-sprachlichen Grenzen des Dogmas sowie über seine Verbindung zum persönlichen Glaubensbekenntnis, das in der Liturgie seinen höchsten Stellenwert findet. Zur Frage von Dogma und lehrmäßigem Fortschritt bei Ratzinger vgl. die Dissertation von: Ralph Weimann, Dogma und Fortschritt bei Joseph Ratzinger. Prinzipien der Kontinuität, Paderborn 2012.

[25] Katechismus der Katholischen Kirche, 88.

[26] Johannes Paul II, Ad Tuendam Fidem (18.05.1998), 3, weist darauf hin, dass diese Verbindung „aus historischen Gründen oder als logische Folge“ entstehen kann.

[27] Vgl. JRGS 2 (Anm. 2), 197.

[28] Vgl. ebd., 198-199.

[29] Ebd., 442-443.

[30] Für eine Annäherung an die Theologie der Geschichte von Joachim von Fiore vgl.: A. Staglianò, L’Abate calabrese. Fede cattolica nella Trinità e pensiero teologico della storia in Gioacchino da Fiore, Vatikanstadt 2013, bes. Kap. 3.

[31] Vgl. JRGS (Anm. 15), 578, In diesem Zusammenhang zitiert Ratzinger einen Text von M. Löhrer, der von einem „hermeneutischen Zirkel“ zwischen Schrift und Lehramt spricht, der vom Theologen respektiert werden müsse.

[32] Ebd., 558-559 (Fußnote 9).

[33] Vgl. z. B.: JRGS 9/1 (Anm. 24), 602-608.

[34] Vgl. JRGS 9/1 (Anm. 15), 578.

[35] Obwohl das Lehramt von Papst Benedikt XVI. nicht Gegenstand dieser Darstellung ist, entnehmen wir diesen Ausdruck seiner berühmten Ansprache an die römische Kurie anlässlich der Überbringung der Weihnachtsgrüße.  (22.12.2005).

[36] Vgl. Joseph Ratzinger, Glaube und Erfahrung, in: JRGS 9/1, 85-105, hier 88-89.

[37] JRGS 9/1 (Anm. 20), 227.

[38] In dieser Hinsicht sind die Beobachtungen in dem kurzen Artikel sehr hilfreich: T. G. Guarino, «Pope Francis and St. Vincent of Lérins», First Things [online edition] (16.08.2022): https://www.firstthings.com/web-exclusives/2022/08/pope-francis-and-st-vincent-of-lrins [accesso 17.08.2022]. Di Thomas Guarino, Vgl. auch die Monographie: Vincent of Lérins and the Development of Christian Doctrine, Grand Rapids 2013.

[39] Vgl. Joseph Ratzinger, Offenbarung – Schrift – Überlieferung, in: JRGS 2, 693-711.

[40] Ebd., 697.

[41] Ebd. 697-698.

[42] Vgl. Konzil von Florenz, Exsultate Deo (22.11.1439): DH 1326; Pius XII., Sacramentum Ordinis (30.11.1947): DH 3858-3859.

[43] Michael Seewald, Dogma im Wandel. Wie Glaubenslehren sich entwickeln, Freiburg i. Br. 2018, 259-260.

[44] Ebd. 261-262.

[45] Vgl. Joseph Ratzinger/Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Erster Teil. Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg i. Br. 2006. Joseph Ratzinger/Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Zweiter Teil. Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung, Freiburg i. Br. 2012. Joseph Ratzinger/Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Prolog. Die Kindheitsgeschichten, Freiburg i. Br. 2012. Die drei Abhandlungen wurden dann in einer überarbeiteten und korrigierten Ausgabe gesammelt. Vgl.: Joseph Ratzinger Jesus von Nazareth. Beiträge zur Christologie. Erster Teilband, in: JRGS 6/1.

[46] Ratzinger formuliert dieses hermeneutische Kriterium in einfachen und direkten Worten: „dass ich den Evangelien traue.“ JRGS 6/1 (Anm. 43), 137. Obwohl er die positiven Beiträge der modernen historisch-kritischen Techniken anerkennt, fährt er fort: „wollte ich doch den Versuch machen, einmal den Jesus der Evangelien als den wirklichen Jesus, als den »historischen Jesus« im eigentlichen Sinn darzustellen. [...] Ich denke, dass gerade dieser Jesus – der der Evangelien – eine historisch sinnvolle und stimmige Figur ist.“ Ebd. Mit den drei Bänden über Jesus von Nazareth konnte Ratzinger einen Wunsch verwirklichen, den er 1986 in der Vorlesung „Vom geistlichen Grund und vom kirchlichen Ort der Kirche“ geäußert hatte: „Wie aufregend und schön wäre es, einmal wieder den Jesus zu suchen, den nicht diese und jene vermutete Quelle beschreibt, sondern das wirkliche Neue Testament selbst.“ Joseph Ratzinger, Vom geistlichen Grund und vom kirchlichen Ort der Kirche, in: JRGS 9/1, 135-158, hier: 153.

[47] JRGS 7/1 (Anm. 18), 753.

[48] Ratzinger, Aus meinem Leben, (Anm. 3), 65-66.

[49] Vgl. Gagliardi, La Verità è sintetica, (Anm. 8), 97-99.

[50] DV 8: „Diese apostolische Überlieferung kennt in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes einen Fortschritt (5): es wächst das Verständnis der überlieferten Dinge und Worte durch das Nachsinnen und Studium der Gläubigen, die sie in ihrem Herzen erwägen (vgl. Lk 2,19.51), durch innere Einsicht, die aus geistlicher Erfahrung stammt, durch die Verkündigung derer, die mit der Nachfolge im Bischofsamt das sichere Charisma der Wahrheit empfangen haben; denn die Kirche strebt im Gang der Jahrhunderte ständig der Fülle der göttlichen Wahrheit entgegen, bis an ihr sich Gottes Worte erfüllen.“ Das Ziel des Wachstums, auf das der Text hinweist, ist von grundlegender Bedeutung: dass sich die Worte Gottes in der Kirche erfüllen. Es sind also sie und nicht andere Worte, die von der Kirche bis zum Ende der Zeit vollständig verstanden werden müssen.

[51] Dante Alighieri, Inferno, XXVII, 120..

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